2023 – Der politische Jahresrückblick

EDITORIAL: 2023 - Der politische Jahresrückblick

MELDUNGEN: Threads startet in der EU | Google-Suchtrends 2023 | Offener Brief zivilgesellschaftlicher Organisationen | Report zu rechtsextremer Online-Hassrede | Evidenzbasierte Politikgestaltung u.v.m.

WAHLTREND: Union auf neuem Hoch

BUCH: Top Ten politbooks 2023

FUNDSTÜCK DES JAHRES: Hat er jetzt nicht gesagt?!

STAKEHOLDER DES JAHRES: Bundesverfassungsgericht

Liebe Leserin, lieber Leser,

wo auch immer Sie in wenigen Tagen den Jahreswechsel feiern werden: Halten Sie einen Moment inne für Christine Lambrecht. Ihr legendäres “Silvestervideo” startete das politische Jahr im Januar außergewöhnlich früh und fegte die glücklose Verteidigungsministerin wenig später endgültig aus dem Amt. Ihr folgte Boris Pistorius und mit ihm eine der seltenen Erfolgsstories der Ampel: Der ehemalige niedersächsische Innenminister ist seit Monaten der beliebteste Politiker im Land, was insbesondere für IBUKs eine Seltenheit ist.

Russlands Krieg gegen die Ukraine war auch in diesem Jahr der prägende außenpolitische Konflikt. Dies schlug sich innenpolitisch zunächst vor allem in der sich hinziehenden Debatte über Panzerlieferungen nieder. Die Diskussionen über weitere Waffenlieferungen gehen seitdem zwar weiter, bekommen aber nicht mehr die große öffentliche Aufmerksamkeit.

Im Februar stand die Wiederholungswahl zum Berliner Abgeordnetenhaus im Fokus. Nur 53 Stimmen besiegelten am Ende das Schicksal der amtierenden rot-rot-grünen Regierung und die CDU konnte nach 22 Jahren erstmals wieder den Regierenden Bürgermeister in der Hauptstadt stellen. Dank der SPD, die nun lieber zum Juniorpartner wurde. Für die Grünen sollte es nicht der letzte Regierungsexit des Jahres bleiben, auch wenn sie nach der Wahl in Bremen im Mai trotz Verlusten die rot-grün-rote Koalition fortsetzen konnten.

Der Rücktritt von BMWK-Staatssekretär Patrick Graichen wegen des Vorwurfs der Vetternwirtschaft – Stichwort “Trauzeugen-Affäre” – nach einer wochenlangen Debatte überschattete zu dieser Zeit ebenfalls die Arbeit der Bundesregierung. Aktuell ist Graichen als selbstständiger “Climate and Energy”-Experte unterwegs (LinkedIn) und verteidigt unter anderem das sogenannte Heizungsgesetz. Der politische Streit und die mediale Diskussion über das Gesetz haben den Grünen dieses Jahr mehr Zuspruch als jede Wahlniederlage gekostet. Damit und anderen politischen Patzern habe die Partei in diesem Jahr einen Teil der politischen Mitte verspielt, findet Oliver Neuroth von der ARD.

Im Abnutzungskrieg in der Ukraine gab es relativ wenig Bewegung an der Front. Dafür hat der Kurzzeit-Aufstand der Wagner-Gruppe im Juni für Aufsehen gesorgt. Für wenige Stunden sah es so aus, als könnte Putins Macht in Gefahr sein. Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin ist mittlerweile bei einem Flugzeugabsturz bei besten Witterungsbedingungen ums Leben gekommen. Putin plant unterdessen seine Wiederwahl bei den russischen Präsidentenwahlen im März 2024. Vom wichtigsten Kreml-Kritiker Alexej Nawalny fehlt nach einer angeblichen Haftverlegung seit Wochen jede Spur.

Der Sommer 2023 brachte zudem die ersten AfD-Landräte und Bürgermeister Deutschlands mit sich: In Sonneberg (Thüringen) und Raguhn-Jeßnitz (Sachsen-Anhalt). Die taz zieht eine 5-Monats-Bilanz des ersten AfD-Landrats. Seit gestern gibt es auch den ersten Oberbürgermeister in Pirna (Sachsen). Die Morgenpost mit einer Analyse der politischen Agenda von Tim Lochner, der von der AfD unterstützt wurde und nun für sieben Jahre gewählt ist. Im kommenden Jahr dürften angesichts des anhaltenden Umfragehochs der Partei viele weitere folgen. Damit einhergehend wird erwartungsgemäß auch die Brandmauer-Debatte bei der Union wieder aufflammen.

Im Oktober folgten die Landtagswahlen in Bayern und Hessen. Im Süden haben die Freien Wähler trotz oder vielmehr wegen des Antisemitismus-Skandals um Hubert Aiwanger ein Rekordergebnis erzielt und bleiben in der Regierung von Markus Söder. Die FDP flog derweil, wie schon in Berlin, aus dem Landtag. In Hessen entschied sich Boris Rhein hingegen für die SPD statt die Grünen, die damit nach neun Jahren in Wiesbaden wieder in der Opposition gelandet sind. Gestern wurde der Koalitionsvertrag mit 99 % (CDU) bzw. 82 % (SPD) angenommen.

Der 7. Oktober 2023 markierte aber vor allem eine neue Ära im Nahost-Konflikt: Die Massaker der Hamas an diesem Tag waren der verheerendste Angriff auf Israel seit dem Jom-Kippur-Krieg vor 50 Jahren. Die Folgen für die Region sind weiterhin kaum absehbar und auch in Deutschland und anderen Ländern ist der Konflikt angesichts eines offen zutage tretenden Antisemitismus seitdem deutlich spürbar.

Für die Ampel kam es zum Jahresende nochmal richtig dicke: Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts (siehe Stakeholder des Jahres) zum Klima- und Transformationsfonds (KTF) zerbröselte im November die Haushaltsplanung in Rekordzeit. In der letzten Woche konnten die Ampelspitzen zumindest den Nachtragshaushalt für 2023 durchs Parlament und das Budget für 2024 auf den Weg bringen. Wie lange die Einigung fürs neue Jahr Bestand hat, ist aktuell aber schon wieder fraglich.

Der Bundestag verlor im Jahr 2023 durch Rücktritte nicht nur Parlamentarier wie Jürgen Trittin (t-online hat die emotionalen Szenen zu seinem Abschied im Video), Hagen Reinhold und Michael Hennrich, sondern auch eine Fraktion: Die Linke verabschiedet sich nach der BSW-Abspaltung vom Fraktionsstatus. Dafür gibt es nun zwei Gruppen und voraussichtlich bald eine neue Partei unter Führung von Sahra Wagenknecht.

Ähnlich konstant wie die Dauerkrise der Ampel war sonst nur die Debatte um Künstliche Intelligenz. Sechs Trends wie es im nächsten Jahr damit weitergehen kann, hat Tiago Cardoso aufgeschrieben. Auch in der Social-Media-Landschaft veränderte sich einiges: Nachdem der Meltdown von Twitter/X an Fahrt aufnahm, gab es einen kurzzeitigen Hype um die Alternative BlueSky. Vor wenigen Tagen startete zudem der Meta-Klon Threads auch in Europa (siehe politticker). Ankit Goswami orakelt über den rechtmäßigen Twitter-Erben. Einen ausführlichen Rückblick auf weitere digitalpolitische Meilensteine 2023 bietet Netzpolitik.org.

Was den Politikbetrieb 2023 sonst noch beschäftigte:

  • Der Staatsbesuch des neuen britischen Königs Charles III.
  • Die unendliche Geschichte der Wahlrechtsreform ist vorerst zu Ende – zumindest bis zum nächsten Gerichtsurteil.
  • Ebenso vorbei ist die Ära der Atomkraft, nicht jedoch die dazugehörige Diskussion über ihre mögliche Rückkehr.

Die vergangenen 12 Monate brachten auch einige Perlen der politischen Kommunikation mit sich:

  • So etwa, wie sich SPD-Landespolitiker Philipp da Cunha minutenlang um eine konkrete Antwort wand – Über den “wahren Grund”, warum Politiker:innen so selten Klartext reden, haben Jörg Quoos und Lars Haider ein Buch geschrieben, das sie im Morgenpost-Interview vorstellen.
  • Wie Armin Laschet die AfD im Bundestag zusammenstauchte.
  • Die Löwin von Kleinmachnow und die Reaktionen darauf.
  • Und natürlich der Kanzler und seine Augenklappe.

Abschied nehmen hieß es im nun ablaufenden Jahr unter anderem von diesen Politiker:innen, deren jeweilige Nachrufe Sie nachfolgend verlinkt finden:

Die politischen Meilensteine für 2024:

  • Am 17. März stellt sich in Russland Wladimir Putin zur Wahl. Ob es überhaupt eine Chance für eine Alternative gibt, erklärt der Historiker Matthäus Wehowski. Putin könnte laut aktueller Verfassung bis 2036 im Amt bleiben, dann wäre er 84.
  • Auch in Portugal (10. März), Indien (April/Mai) und Österreich (Herbst) wird gewählt.
  • Am 9. Juni stehen in Deutschland die Wahl zum Europäischen Parlament sowie die Kommunalwahlen in Baden-Württemberg, Brandenburg, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Rheinland-Pfalz, Saarland, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen an.
  • Im September folgen die Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen (1.9.) sowie in Brandenburg (22.9.).
  • Von großer Bedeutung sind zudem die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in den USA am 5. November.
  • Welche Rolle Desinformation und digitale Wahlbeeinflussung dabei spielen können, hat unser Research-Team in der politik&kommunikation dargelegt.

Als weiteren Lesestoff für die Feiertage oder auch als Inspiration für die letzten Weihnachtsgeschenke hat Benjamin Triebe die zehn politbooks des Jahres zusammengestellt. Wenn es etwas musikalischer unter dem Weihnachtsbaum werden soll, sei Ihnen die neue Single von Justizminister Marco Buschmann ans Herz gelegt. Ja, richtig gelesen: Für die Gerald Asamoah Stiftung für herzkranke Kinder schrieb er den Song “We will survive”, dessen Einnahmen der Stiftung zugutekommen.

Für die Wartezeit vor der Bescherung gibt es hier wie jedes Jahr unser politnews-Jahresendquiz zu den Randnotizen des Politikbetriebs. Wenn es ganz lange dauert mit den Geschenken, können Sie sich noch mal am Quiz aus 2022 versuchen.

Wir melden uns am 8. Januar 2024 mit den nächsten politnews zurück. Sollten Sie uns bis dahin Feedback, Hinweise oder auch Kritik zukommen lassen wollen, freuen wir uns über Post an politnews@polisphere.eu.

Mit den besten Grüßen zum Wochenstart, frohe Festtage und einen guten Start ins neue Jahr wünscht

 

Aktuelle politjobs
Politticker
Threads-Start in der EU

Mit einiger Verzögerung ist die neue Meta-Plattform Threads, eine Art Twitter/X-Klon, vergangene Woche auch in der EU gestartet. Grund für den späteren Start waren rechtliche Unsicherheiten. Die ersten politischen Institutionen sind bereits auf Threads vertreten: So etwa das Bundesjustizministerium. Für alle, die ebenfalls über die Threads-Nutzung nachdenken, hat die Tagesschau zudem ein FAQ zusammengestellt.

Google-Suchtrends 2023

Welche Schlagzeilen, Themen, Menschen und Fragen haben Google-Nutzer:innen in Deutschland 2023 besonders beschäftigt? Das zeigt der Google-Rückblick, der die Suchtrends des Jahres basierend auf dem Interesse an bestimmten Suchbegriffen erstellt. Zu den meistgesuchten Schlagzeilen gehörten neben dem “Krieg in Israel und Gaza” auch der vermeintliche “Löwe Berlin” sowie der “Bahnstreik”. Zusätzlich hebt der Rückblick zwei Themen besonders hervor: Besonders im Bereich Klimawandel und Technologie wurde Google häufig befragt. Dabei…

Offener Brief zivilgesellschaftlicher Organisation

“Dramatische Folgen” ergeben sich für zivilgesellschaftliche Organisationen durch die aktuelle Haushaltskrise der Bundesregierung: Durch die derzeit noch bestehende Ausgabensperre für 2024 wird die Auszahlung bereits zugesagter Förderungen verhindert, was zu Entlassungswellen und Projektstops führen wird. Davor warnt nun ein offener Brief diverser Organisationen, dazu gehören etwa die Amadeu Antonio Stiftung, das NETTZ, HateAid oder der LSVD. Sie fordern insbesondere die Freigabe der bereits versprochenen Fördermittel, aber auch die Umsetzung des…

Report zu rechtsextremer Online-Hassrede

Wie wird Hate Speech in rechtsextremen Online-Ökosystemen in Deutschland und Österreich benutzt und verbreitet? Dieser Frage widmet sich ein Report des Projekts “RECO_DAR”, das vom Modus – Zentrum für angewandte Deradikalisierungsforschung gemeinsam mit SCENOR umgesetzt wird. Basierend auf 30 Expert:innen-Interviews wurde untersucht, wie sich Hate Speech definieren lässt, welche Akteure dabei zentral involviert sind und welche Narrative auf welchen Plattformen hervorstechen. Die Autoren kommen dabei zu dem Schluss, dass…

Evidenzbasierte Politikgestaltung

Mehr Evidenz in politischen Entscheidungsprozessen ist das Ziel der “Initiative für evidenzbasierte Politikgestaltung”, die bei der Leopoldina angesiedelt ist und in den vergangenen Jahren Roundtable-Veranstaltungen zum Thema organisiert hat. Die Ergebnisse der Veranstaltungen wurden nun in einem Papier veröffentlicht: Das Leopoldina-Forum bietet einen Überblick über internationale evidenzbasierte Politikberatung und zeigt Best-Practice-Beispiele für Strukturen auf, die eine wirkungsvolle Kooperation zwischen Politik und Wirtschaft etablieren konnten. Genauer betrachtet werden dabei etwa…

Wahltrend
Wahltrend 18 Dezember 2023

Der pollytix-Wahltrend zur Sonntagsfrage, Vorwochenvergleich in gefärbten Zahlen. Die Angaben berechnen sich aus dem gewichteten Mittel aller Sonntagsfragen der letzten 20 Tage. Den kompletten Wahltrend und alle Einzelumfragen finden Sie hier, mehr zur Methodologie hier.

Buch der Woche

politbooks

Unsere Top Ten 2023

In diesem Jahr haben wir an dieser Stelle und auf politbooks.de wieder viele spannende und lesenswerte Bücher vorgestellt. Zehn davon möchten wir hier besonders hervorheben und allen politisch Interessierten ans Herz legen – auch als Tipp, falls Sie kurzfristig noch Weihnachtsgeschenke für Freunde der politischen Literatur suchen:

  1. Sophie Schönberger: Zumutung Demokratie. Ein Essay
  2. Meron Mendel : Über Israel reden. Eine deutsche Debatte
  3. Helene Bubrowski: Die Fehlbaren. Politiker zwischen Hochmut, Lüge und Unerbittlichkeit
  4. Stephan Anpalagan: Kampf und Sehnsucht in der Mitte der Gesellschaft
  5. Thomas Lux, Steffen Mau & Linus Westheuser: Triggerpunkte. Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft
  6. Michael Thumann: Revanche. Wie Putin das bedrohlichste Regime der Welt geschaffen hat
  7. Stephan Lamby: Ernstfall. Regieren in Zeiten des Krieges
  8. Reinhard Bingener & Markus Wehner: Die Moskau-Connection. Das Schröder-Netzwerk und Deutschlands Weg in die Abhängigkeit
  9. Thomas Deelmann: Die Berater-Republik. Wie Consultants Milliarden an Staat und Unternehmen verdienen
  10. Thomas Biebricher: Mitte/Rechts. Die internationale Krise des Konservatismus

Alle Buchempfehlungen finden Sie auch unter www.politbooks.de.

Social-Media-Fundstück der Woche

@YWNReporter

Hat er jetzt nicht gesagt?!

Jede Woche suchen wir die besten Social-Media-Fundstücke zur politischen Lage heraus. In diesem Jahr hat Sie ein Auftritt von Joe Biden besonders interessiert – oder besser gesagt, die Reaktion seines Außenministers Antony Blinken darauf.
Das Fundstück des Jahres kommt von Moshe Schwartz, Reporter der Yeshiva World News.

Stakeholder der Woche

Bundesverfassungsgericht

Als “Hüterin der Verfassung” wacht das Bundesverfassungsgericht über die Einhaltung des Grundgesetzes und entscheidet über verfassungsrechtliche Fragen. In diesem Jahr betraf dies unter anderem die Wahlrechtsreform von 2020, die Stiftungsförderung, das GEG-Gesetzgebungsverfahren und die Schuldenbremse. Dabei unterteilt sich das Gericht in zwei Senate mit jeweils acht angehörigen Richter:innen und eigenen, genau definierten Zuständigkeiten. Die Präsidentschaft hat aktuell der Heidelberger Stephan Harbarth inne. Seinen Sitz hat das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe.
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Das Redaktionsteam
18. Dezember 2023