Geheimwissen und Geheimnisverrat

EDITORIAL: Geheimwissen und Geheimnisverrat

MELDUNGEN: Wirtschaftspolitische Politikberatung | Lobbyreport 2024 | Table.Briefing zu Populismus | TikTok-Erfolg der AfD u.v.m.

WAHLTREND: Union über 30 %, FDP erreicht 5-Prozent-Hürde

BUCH: Russland und der Westen. Ideologie, Ökonomie und Politik seit dem Ende der Sowjetunion

FUNDSTÜCK: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser

STAKEHOLDER: Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie

Liebe Leserin, lieber Leser,

bis zum Ukraine-Krieg fristete der Taurus-Marschflugkörper ein relativ unbeachtetes Dasein in den Waffenkammern der Bundeswehr. Doch mit der Zeitenwende änderte sich auch für das “Target Adaptive Unitary and Dispenser Robotic Ubiquity System” aus deutsch-schwedischer Produktion, das pro Stück knapp eine Million Euro kostet, einiges. Vor allem die Präsenz in den Schlagzeilen des Politikbetriebs.

Nach monatelangem Streit um eine Lieferung an die Ukraine und einem Abhörskandal gab es jetzt eine denkwürdige Bundestagsdebatte zum Thema. Dort kam es erst zu einem interessanten Disput zwischen Bundeskanzler Olaf Scholz und CDU-Außenpolitikexperte Norbert Röttgen (hier im Video), bei dem der Kanzler dem Kontrahenten eine Art “Geheimwissen” über den Taurus unterstellte. Damit berührte Scholz eine sehr zentrale Frage in der sich wiederholenden Debatte um Waffenlieferungen: Wie viel darf öffentlich verhandelt werden, wenn es um militärische Details und die Bündnissicherheit geht? Auffällig war zudem, wer dem Kanzler im Plenum hauptsächlich applaudiert hat, wie Torben Ostermann vom ARD-Hauptstadtstudio deutlich macht.

Dann veröffentlichte t-online eine Recherche über eine Sondersitzung des Verteidigungsausschusses, die vergangenen Montag stattfand. Insiderinformationen zufolge wurden dabei auch die Risiken einer Taurus-Lieferung für die Sicherheitsinteressen Deutschlands thematisiert: Die Lieferung könnten angeblich die Einsatzbereitschaft der Streitkräfte beeinträchtigen. Marie-Agnes Strack-Zimmermann kündigte daraufhin eine Anzeige wegen des Verdachts auf Geheimnisverrat an. Zumindest muss sie sich dann nicht mit dem Spott über ihr “Oma Courage”-Wahlplakat beschäftigen. Was das Luft-Boden-Waffensystem nun wirklich kann und was nicht, hat der Tagesspiegel erklärt.

Bei der FDP gab es aber noch mehr Grund zum Ärger: Das (deutlich abgeschwächte) EU-Lieferkettengesetz ist auf dem Weg der Verabschiedung, nachdem Deutschland von den anderen EU-Staaten einfach per qualifizierter Mehrheit überstimmt wurde. Wie das genau funktioniert, wird hier erklärt. Die Liberalen blockierten zuletzt die Zustimmung der Bundesregierung zum Vorhaben für mehr Menschenrechts- und Umweltschutz in Lieferketten, da es zu bürokratisch sei. Das stellte auch ein zerknautschter Christian Lindner klar.

In ganz anderer Stimmung war sein Kabinettsrivale Robert Habeck. Der hatte ausnahmsweise mal gute Nachrichten zu verkünden: Deutschland liegt überraschend auf Kurs bei den Klimaschutzzielen. Das hat allerdings auch viel mit Sondereffekten zu tun und nicht allein mit der deutschen Klimaschutzpolitik, erklärt ein Forscher des Wuppertal Instituts beim WDR.

Weder zum Lieferkettengesetz noch zum Klimaschutz war von der AfD in der letzten Woche viel zu hören. Man war mit dem Gerichtsverfahren zur Beobachtung durch den Verfassungsschutz beschäftigt. Dies wurde jedoch vertagt, da die AfD-Anwälte den Richterspruch mit allerlei Finten und Verzögerungstaktik hinauszögern konnten.

  • Worum es bei diesem Rechtsstreit geht, hat die Tagesschau zusammengefasst.
  • Über die Vertagung des Urteils schreibt der MDR.
  • Auch die Frage, ob V-Leute die AfD schon unterwandert haben, spielt dabei eine Rolle. Maximilian Beer bei der Berliner Zeitung kennt die Details.

Wenig hilfreich für die Partei im weiteren Prozessverlauf wird sicherlich eine neue Enthüllung sein: Mehr als 100 Rechtsextreme beschäftigt die AfD-Fraktion im Bundestag. Infolgedessen fordert Bundestagspräsidentin Bärbel Bas nun, den Schutz des Hohen Hauses weiter auszubauen – und zwar vor Extremist:innen jeder politischen Richtung.

  • Passenderweise fordert der AfD-Abgeordnete Thomas Seitz nun die Bewaffnung seiner Mitarbeiter, da Berlin ein “Failed State” sei.
  • Für einen weiteren Eklat sorgte die AfD-Bundestagsfraktion: Ihr Abgeordneter Kay-Uwe Ziegler besetzte den Platz der Vorsitzenden im Gesundheitsausschuss aus Protest gegen die Weigerung des Ausschusses, einen AfD-Vertreter zum Vorsitz zu wählen.
  • Wie beim überparteilichen FC Bundestag mit AfD-Abgeordneten umgegangen wird, erklärt ein Tagesthemen-Beitrag.

Von einer Seite bekommt die AfD aber meist Applaus, denn die Kremlnähe der Partei ist verbrieft. Nun hat Russland gewählt – bzw. an der staatlich angeordneten Wahlsimulation teilgenommen. Wladimir Putin kann mit offiziell verkündeten knapp 88 % – was sein bisher bestes Ergebnis wäre – seine nun fünfte Amtszeit antreten. Sollte er diese vollenden, wäre er seit 30 Jahren an der Macht und damit der längste Herrscher Russlands seit Katharina der Großen im 18. Jahrhundert.

  • Julia Nawalnaja hatte im Vorfeld zu Protestaktionen aufgerufen und im Berliner Exil den Namen ihres kürzlich gestorbenen Mannes auf den Wahlzettel geschrieben.
  • Weitere Beispiele für Störaktionen hat die Frankfurter Rundschau gesammelt. Eine grafische Übersicht über die betroffenen Regionen bietet das russischsprachige 7x7Journal auf Twitter/X.
  • Warum das Wählen am Mittag eine der letzten möglichen Protestformen in einer Autokratie ist, haben Silke Bigalke und Leopold Zaak für die Süddeutsche aufgeschrieben.
  • In Russland kann man übrigens auch digital wählen. Wie das zusätzliche Wahlmanipulation ermöglicht, erklärt der EU Observer.
  • Warum die angegebene Wahlbeteiligung von 74 % sehr wahrscheinlich übertrieben ist, erläutert Florian Kellermann beim Deutschlandfunk.
  • Bundespräsident Steinmeier verzichtet auf die obligatorische Gratulation. Wie die ersten Reaktionen bei deutschen Außenpolitiker:innen ausfallen, dokumentiert der Tagesspiegel.
  • Beim Spiegel karikiert der Cartoonist Klaus Stuttmann die Scheinwahl.
  • Einen Eindruck von den Abläufen in russischen Wahllokalen vermittelt unser Fundstück.
  • Wie sich in Russland seit den 1990er Jahren eine gegen den Westen gerichtete illiberal-konservative Bewegung durchsetzen konnte, zeigt unser Buch der Woche.

Hierzulande wird demgegenüber ein weiterer Schritt hin zu einem inklusiven Politikbetrieb getan: Mit Heike Heubach von der SPD zieht diese Woche die erste gehörlose Abgeordnete in der Geschichte des Bundestags ins Plenum ein. Sie rückt über die bayerische Landesliste für Uli Grötsch nach, der am Donnerstag zum Polizeibeauftragten des Bundes gewählt worden ist.

 

Mit den besten Grüßen zum Wochenstart

 

Aktuelle politjobs
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Wahltrend politnews 18.03

Der pollytix-Wahltrend zur Sonntagsfrage, Vorwochenvergleich in gefärbten Zahlen. Die Angaben berechnen sich aus dem gewichteten Mittel aller Sonntagsfragen der letzten 20 Tage. Den kompletten Wahltrend und alle Einzelumfragen finden Sie hier, mehr zur Methodologie hier.

Buch der Woche

Katharina Bluhm

Russland und der Westen

Nach der Wahl, die eigentlich keine war, wird Wladimir Putin auch die nächsten sechs Jahre in Russland als Präsident regieren und das Land höchstwahrscheinlich auf Kriegskurs halten. Doch wie konnte es eigentlich dazu kommen, dass Russland sich nach dem Zerfall der Sowjetunion zu einer revisionistischen Macht mit imperialen Ansprüchen entwickelte und immer deutlicher ein repressives Staatsprojekt Putinscher Prägung verfolgte?

Antworten gibt Katharina Bluhm in ihrem Buch über Ideologie, Ökonomie und Politik des Landes seit 1990. Die Soziologin analysiert u.a. die Auseinandersetzungen zwischen Reformkommunisten und Liberalen sowie die illiberal-konservative Gegenbewegung zur Westintegration. Sie zeigt, wie sich diese Bewegung in den 2000er Jahren im russischen Parteiensystem etablieren und schließlich Einfluss in der Regierung entfalten konnte. Dabei wird deutlich, dass der Putinismus wohl nicht mit Putin verschwinden wird – und dass es ihm vor allem darum geht, eine gegen den liberalen Westen gerichtete multipolare Weltordnung zu schaffen.

Alle Buchempfehlungen finden Sie auch unter www.politbooks.de.

Social-Media-Fundstück der Woche

@JayinKyiv

Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser

Wahlen soll frei und geheim sein. In Russland aber bitte nicht zu sehr, wie dieser Clip aus einem russischen Wahllokal zeigt, der auch als Sketch von Monty Python durchgehen könnte.

Stakeholder der Woche

Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie

Das Wuppertal Institut forscht zu Fragen der Nachhaltigkeit und Transformation und möchte so einen “Beitrag zur Einhaltung der planetaren Grenzen” leisten. Dabei konzentriert sich der gemeinnützige Think Tank mit Sitz in Wuppertal auf die Gestaltung von Transformationsprozessen, um eine klimagerechte und ressourcenleichte Welt zu ermöglichen. Es nahm 1991 unter Ernst Ulrich von Weizsäcker seine Arbeit auf und wird heute vom wissenschaftlichen Geschäftsführer Manfred Fischedick sowie dem kaufmännischen Geschäftsführer Michael Dedek geleitet.

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18. März 2024