Der übernommene Vogel

Die politnews vom 31. Oktober 2022

EU-Pressemitteilungen sind zu kompliziert | Jugend fühlt sich politisch nicht gehört | Mehr Livestreams aus dem Bundestag | Deutsche Internetfreiheit fällt ab | Jobwechsel gefährden EU-Institutionen u. v. m.

WAHLTREND: SPD und FDP mit leichten Gewinnen | BUCH: Gekränkte Freiheit: Aspekte des libertären Autoritarismus | TWEET: Tweet der Woche? Vogel des Jahres! | STAKEHOLDER: Das Nettz

Liebe Leserin, lieber Leser,

„the bird is free”, so verlautbarte Elon Musk am Freitagmorgen um 05:49 Uhr deutscher Zeit die erfolgte Twitter-Übernahme. Danach ging es Schlag auf Schlag: Der Südafrikaner hat das Unternehmen, das er für 44 Milliarden Euro gekauft hat, von der Börse genommen, was bedeutet, dass er sich auch vieler Transparenzpflichten entledigt hat. Zuvor hatte er sich bereits mit einem Statement an alle auf der Plattform Werbetreibenden gewandt und angekündigt, Twitter solle ein Ort werden, der „warm and welcoming for all” sei.

Seine ersten zwei Tage als Twitter-Chef sahen aber anders aus: So stieg beispielsweise die Anzahl an Tweets, die das N-Wort enthielten, sprunghaft um rund 500 % an. Außerdem wurden massenhaft sexistische, antisemitische und LGBTQI*-feindliche Tweets, Symbole aus der Zeit des Nationalsozialismus und diverse Verschwörungserzählungen gepostet. Offenbar waren gezielte Troll-Aktionen der Hintergrund, die unter anderem von dem Imageboard 4chan aus koordiniert wurden. In rechten und libertären Kreisen wird die Übernahme durch Musk als Erfolg gefeiert. Man wollte zeigen, dass sich der Wind gedreht hat. Bis sich an der Moderation wirklich etwas ändert, wird wohl noch etwas Zeit vergehen, wenn der von Musk neu zu schaffende „Inhaltsbeirat” seine Arbeit aufnimmt. Ein Gerücht über eine andere Neuerung dürfte derweil besonders die verifizierten Account-Inhaber nerven: Der berühmt-berüchtigte „blaue Haken“ soll künftig mit 20 Dollar pro Monat monetarisiert werden.

Musk selbst ließ einmal mehr Zweifel an seinem Verständnis von Informationsfreiheit aufkommen: Unter einem Tweet von Hillary Clinton zum Attentat auf Nancy Pelosis Ehemann teilte er eine aus ultrarechten Kreisen stammende Verschwörungserzählung und löschte sie erst Stunden später wieder unkommentiert. Seine Quelle: ein ominöses Newsportal, das 2016 zum Beispiel zu berichten wusste, dass Hillary Clinton tot sei. Warum die Attacke eine neue Angst vor politischer Gewalt in den USA auslöst, hat Juliane Schäuble für den Tagesspiegel erklärt.

Twitter ist aus der Politik, auch aus der deutschen, nicht wegzudenken. Das wird Sie als Leser:in dieses Newsletters nicht überraschen, in dem wir den Wandel der digitalen politischen Kommunikation seit fast einem Jahrzehnt verfolgen und analysieren. Doch jetzt schließen auch Vertreter:innen der Bundesregierung nicht aus, die Plattform zu verlassen, sollten gängige und künftig greifende Regeln für Soziale Medien von Musk und seiner Plattform nicht eingehalten werden. Das soll in der Theorie auch der Digital Services Act verhindern. Thierry Breton, EU-Kommissar für Binnenmarkt und Dienstleistungen, schickte am Tag von Musks Übernahme jedenfalls schon einmal Liebesgrüße aus Brüssel.

1Grafik-Vorlage Editorial

Die SPD-Co-Vorsitzende Saskia Esken hatte bereits vor Musks Übernahme keine Lust mehr und kündigte ihren Abschied von der Plattform an. In der ZEIT erklärt sie, warum „wir uns das Netz zurückholen müssen“. Diverse deutsche Nutzer:innen löschten ihre Profile direkt am Freitag, um zu der Plattform Mastodon zu wechseln. Aber auch viele User:innen, die weiter auf Twitter bleiben wollen, richteten sich nach Musks Übernahme ein Konto bei dem Microblogging-Dienst ein. Die Tagesschau hat sich Mastodon angeschaut und beantwortet alle wichtigen Fragen, etwa auch die, ob der Dienst wirklich langfristig ein adäquater Twitter-Ersatz sein wird. Twitter-Gründer Jack Dorsey arbeitet derzeit an ganz neuer Twitter-Konkurrenz: BlueSky Social. t3n weiß mehr über das neue Netzwerk, dessen Beta-Phase gerade läuft.

Dass Musk Twitter zu einer rechten Krawallbude umbaut, ist dennoch unwahrscheinlich. Denn wo extremistischem Gedankengut keinerlei Grenzen gesetzt werden, will kaum jemand werben. Das immer noch relativ unprofitable Unternehmen erzielt 90 Prozent seiner Einnahmen aus Werbung und mit General Motors ist bereits der erste große Kunde (vorerst) abgesprungen. Man wolle sich ansehen, wie sich Twitter unter Musk entwickele.

  • Andrian Kreye kommentiert für die Süddeutsche Zeitung, welche Probleme auf Musk mit dem Kauf der „Höllenmaschine” zukommen.
  • Kate Ferguson schreibt für die DW darüber, warum ihrer Ansicht nach Soziale Netzwerke nicht in die Hände von Männern wie Elon Musk und Kanye West gehören.
  • Der Business Insider darüber, wie Musks erster Tag für die Twitter-Belegschaft war.
  • Der Tagesspiegel berichtet darüber, ob Ex-US-Präsident Donald Trump zu Twitter zurückkehren könnte – und ob der überhaupt noch will.
  • Eine Twitter-Historie seit der Gründung 2006 hat CNBC aufbereitet (englisch).
  • In einem Video-Interview mit sich selbst (englisch) erklärt Jessica Burbank, warum viel am Hype um Musk Legenden und Halbwissen sind.

Wer nach wie vor nicht auf Twitter ist: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Ihm liegen aber die ausführlichen Textformate ohnehin eher. Erst am Freitag schwor er die Bundesrepublik in einer Grundsatzrede auf harte Zeiten ein. In einem Äquivalent zur „Zeitenwende” des Kanzlers sprach er vom „Epochenbruch”, der mit der russischen Invasion der Ukraine unumgänglich und unumkehrbar ausgelöst wurde.

  • Die Rede im Wortlaut.
  • Wie nachhaltig Steinmeiers Äußerungen sein können, analysiert Martin Ganslmeier für die Tagesschau.
  • Was bei der Rede neben dem Bundeskabinett fehlte, kritisiert Dominik Rzepka für das ZDF. Den Mini-Eklat um die schwänzenden Minister erklärt Georg Ismar.

Der Bundespräsident stand auch aus anderen Gründen im Rampenlicht: Schon lange hatte er geplant, die Ukraine zu besuchen. Erst wurde er wieder ausgeladen, kürzlich wurde die Reise wegen Sicherheitsbedenken verschoben. In der vergangenen Woche klappte es dann endlich mit einem Besuch in Kiew.

  • Teile des Besuchs von Steinmeier mussten im Luftschutzkeller stattfinden, wo er Gelegenheit zum Gespräch mit ukrainischen Bürger:innen bekam.
  • Dominik Rzepka geht für das ZDF der Frage nach, ob der Besuch Steinmeiers eine Aussöhnung mit Präsident Selenskyj herbeiführen konnte.

Die Reise von Steinmeier wurde zurecht öffentlich debattiert. Welche Probleme auch private Urlaubsreisen für Politiker:innen auslösen können, beschreibt Markus Decker im Hauptstadt-Radar des RND.

 

Mit den besten Grüßen zum Wochenstart

Philipp Sälhoff

Aktuelle politjobs
Politticker
Jugend fühlt sich nicht gehört

Jugendliche weltweit fühlen sich von ihren Politiker:innen nicht ausreichend repräsentiert. Das geht aus einer Umfrage der UN hervor. Demnach meinen 76 % der Befragten unter 30, dass ihnen „Politiker:innen nicht zuhörten“. Dieser Trend ist insbesondere in Südafrika (90 %), Spanien (80 %) und dem Vereinigten Königreich (80 %) stark ausgeprägt. Während rund 50 % der Weltbevölkerung jünger als 30 Jahre sind, entsprechen lediglich 2,6 % aller Parlamentarier:innen dieser Altersgruppe, so der Report.

Jobwechsel gefährden Integrität der EU-Institutionen

Der Europäische Rechnungshof warnt, dass die Integrität der EU-Institutionen durch Jobwechsel von Mitarbeitenden in EU-Agenturen gefährdet sei. So könnte durch fehlende Regelungen Insiderwissen leicht in falsche Hände fallen, sobald ehemalige oder derzeitige Manager:innen durch Anstellungen in der Wirtschaft in Interessenkonflikte geraten. Die meisten Agenturen verließen sich auf Selbsterklärungen des Personals, nur ein Bruchteil der potenziellen Fälle würde untersucht. EU-Agenturen umfassen knapp 15.000 Mitarbeitende mit einem Budget von 4,1 Milliarden Euro.

Mehr Livestreams aus dem Bundestag

Zum 1. Januar plant die Ampelkoaltion eine Änderung der Geschäftsordnung des Bundestags, um mehr Parlaments-Debatten an die Öffentlichkeit zu tragen. Demnach sollen sich in der Regierungsbefragung künftig nicht nur mindestens zwei Bundesminister:innen den Abgeordneten stellen. Auch werden zukünftig mindestens sechs Ausschüsse öffentlich tagen und ihre Sitzungen live übertragen. Selbst von nicht öffentlichen Sitzungen sollen zeitnah Protokolle veröffentlicht werden.

Studie: EU-Pressemitteilungen zu kompliziert

Die Pressemitteilungen der Europäischen Kommission nutzen außergewöhnlich komplexe Sprache, Jargon und einen schwer zu lesenden „Nominalstil“. Das ist das Ergebnis einer Textanalyse von knapp 45.000 Pressemitteilungen aus den letzten 35 Jahren. Im Vergleich mit anderen Medien wie politischen Magazinen, Zeitungen oder Pressemitteilungen des Vereinigten Königreichs verzeichnen die Mitteilungen der Kommission beispielsweise weitaus weniger bekannte Wörter oder das Lesen vereinfachende Verben. Einzig politische Fachartikel seien im Durchschnitt noch schwieriger zu…

Wahltrend
31.10. Wahltrend

Der pollytix-Wahltrend zur Sonntagsfrage, Vorwochenvergleich in gefärbten Zahlen. Die Angaben berechnen sich aus dem gewichteten Mittel aller Sonntagsfragen der letzten 20 Tage. Den kompletten Wahltrend und alle Einzelumfragen finden Sie hier, mehr zur Methodologie hier.

Buch der Woche

Carolin Amlinger & Oliver Nachtwey

Gekränkte Freiheit: Aspekte des libertären Autoritarismus

Was passiert, wenn individuelle Freiheit verabsolutiert wird, kann man momentan gut an Elon Musks Verständnis der Meinungsfreiheit für Twitter begutachten. Ähnliches lässt sich bei den sogenannten Querdenkern beobachten, die für ihre “Freiheit” streiten, ohne Rücksicht auf gesellschaftlich notwendige Regeln und Gebote – z.B. andere in einer Pandemie nicht zu gefährden oder keine Verleumdungen und Gewaltaufrufe im öffentlichen Diskurs zuzulassen. Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey betrachten solche Entwicklungen in ihrem aktuellen Buch und analysieren sie als eine Folge der individualistischen Modernisierung.

Unterfüttert mit anspruchsvollen theoretischen Reflexionen zu Liberalismus und Autoritarismus, Kritischer Theorie, Individualisierung und Modernisierung beschreiben die beiden Soziolog:innen zahlreiche Fallstudien ihrer Forschung, vornehmlich Personen aus der Querdenken-Szene und aktive AfD-Anhänger:innen. Sie widmen sich aber auch jenen prominenten Intellektuellen, die in Talkshows “vor einem Millionenpublikum erklären, dass sie mundtot gemacht werden sollen”. Bei den Betroffenen, die sich eingeschränkt und bevormundet fühlen, stellen Amlinger und Nachtwey eine Form sozialer Kränkung fest, die sich in Wut, Ressentiment und Demokratiefeindlichkeit äußern kann. Autoritäre Einstellungen werden dabei mit dem Wunsch nach einem abwesenden Staat kombiniert und eine Steigerungslogik führt oft zu immer radikaleren Positionen. In der Konsequenz verleugnen die Libertär-Autoritären die geteilte Realität, beschwören Wahrheitskonflikte herauf und bedrohen damit letztlich die freie Gesellschaft, warnen die beiden Autor:innen.

Benjamin Triebe

Tweet der Woche

@zwitschernahles

Tweet der Woche? Vogel des Jahres!

Auf Twitter ist es ein liebgewonnenes Ritual geworden, mit besonderer Aufmerksamkeit die Wahl zum Vogel des Jahres zu beobachten und zu kommentieren. Für den persönlichen Liebling rühren manche sogar die virtuelle Werbetrommel. In diesem Jahr hat das Braunkehlchen gewonnen. @zwitschernahles hatte gleich nach dem Sieg ein putziges Foto parat.

Mareile Ihde

Stakeholder der Woche
Das NEttz

Das Nettz – Vernetzungsstelle gegen Hate Speech

Die 2017 gegründete Vernetzungsstelle gegen Hate Speech hat als Ziel, Hass im Internet zu verringern und eine konstruktive Diskussionskultur zu etablieren. Das NETTZ agiert deutschlandweit und unterstützt finanziell und organisatorisch Initiativen, die sich für digitale Zivilcourage und gegen Hassrede insbesondere in Sozialen Medien einsetzen. Nadine Brömme und Hanna Gleiss sind die Geschäftsführerinnen der Organisation.

Gregor Bauer

Jobs

Auf der Suche nach dem richtigen politjob?
Jobs aus dem Politikbetrieb auf politjobs.com oder in unserem wöchentlichen Newsletter.

Sie suchen selbst Verstärkung?
Schreiben Sie uns unter info@polisphere.eu für unverbindliche Preisinformationen. Hier finden Sie unsere Anzeigen-Pakete im Überblick.

Oder in den Talent Pool!
Tragen Sie sich direkt kostenlos in unseren Talent Pool ein! Dann melden wir uns, wenn wir einen passenden Job für Sie haben.

Events

Stets aktuelle Veranstaltungen aus dem Politikbereich finden Sie auf politcal.de.

Auf politcal.de können Sie Ihre eigenen Veranstaltungen jederzeit hochladen.
Probieren Sie es aus!

Das Redaktionsteam
31. Oktober 2022