Grenzen des politischen Protests

Die politnews vom 07. November 2022

Jede:r Fünfte glaubt an pro-russische Verschwörungserzählungen | JoinPolitics sucht neue politische Talente | Große Sorgen um Klimawandel und Inflation | Öffentliche Ringvorlesung über liberale Weltordnung | Antisemitische Posts werden kaum gelöscht u. v. m.

WAHLTREND: SPD und FDP mit leichten Gewinnen | BUCH: Guns n' Rosé. Konservative Frauen erobern die USA | TWEET: bye literally everyone | STAKEHOLDER: Weltkongress der Uiguren

Liebe Leserin, lieber Leser,

„die Menschheit steuert auf einen Abgrund zu”, wie es Außenministerin Annalena Baerbock zu Beginn der Weltklimakonferenz im ägyptischen Scharm El-Scheich formulierte – und sie tut es mit Anlauf, klarer Sicht und mittlerweile ziemlich genau 8 Milliarden Menschen, wie das Berlin-Institut gerade bekannt gab. Nun sollen auf der Konferenz vom gestrigen Sonntag bis zum 18. November Lösungen für die Klimakrise gesucht werden. Bundeskanzler Olaf Scholz spricht heute Nachmittag. Die deutsche Delegation fährt jedoch nicht mit dem allerbesten Zeugnis nach Ägypten: Der Expertenrat der Bundesregierung erklärte am Freitag mit der Übergabe seines aktuellen Berichts, dass es derzeit nicht so aussehe, als könne Deutschland die selbst gesteckten Klimaziele erreichen. Pandemie, Ukraine-Krieg und Inflation ließen das Problem in der öffentlichen Wahrnehmung in den Hintergrund treten.

In den letzten Wochen bekommt das Thema wieder mehr Beachtung, wenn auch eher indirekt: Der Protest der Letzten Generation, einer Gruppe von jungen Klima-Aktivist:innen, führt zu einer heftig geführten Debatte, was politischer Protest darf und was nicht. 

Denn seit einiger Zeit versuchen Aktivist:innen immer wieder, durch Protestaktionen wie das Blockieren von Straßen und Autobahnen oder dem Wurf von Kartoffelbrei auf Gemälde auf die Bedrohung durch die Klimakrise aufmerksam zu machen. Mit der Folge, dass mehr und mehr die Art des Protests anstatt sein Ziel, die Klimakatastrophe abzumildern, im Fokus steht. Welcher politische Protest ist also legitim? Und generiert das Beschmieren von Gemälden wirklich höhere Aufmerksamkeit für das eigentliche Thema oder diskreditiert es letztlich die Sache?

Deutlich schärfer wurde diese Debatte, nachdem Aktivist:innen in der vergangenen Woche mit einer Protestaktion einen Abschnitt der Berliner A100 zu einem Nadelöhr werden ließen, während sich einige Kilometer entfernt ein tödlicher Verkehrsunfall ereignete. Der Tod einer Radfahrerin wurde in der Folge massiv instrumentalisiert. Recherchen und Rekonstruktionen der Ereignisse der Süddeutschen Zeitung sowie des RND zeigen aber, dass – im konkreten Fall – das Rettungsfahrzeug selbst dann nicht genutzt worden wäre, wenn es früher eingetroffen wäre. Dennoch ist für viele bei der theoretischen und praktischen Behinderung von Rettungsdiensten und -wegen eine Grenze für Protest und zivilen Ungehorsam erreicht.

  • Der WDR setzt sich mit der rechtlichen Lage rund um die Proteste der Letzten Generation auseinander.
  • Bereits im Februar sprach die Tagesschau mit Expert:innen über den Effekt von Protestformen der Letzten Generation.
  • Im Tagesspiegel erklären zwei Protestforschende, welche Auswirkung die aktuellen Ereignisse haben können.
  • Luisa Neubauer im Interview mit dem ZDF über die Ausprägungen von Protest und die Ereignisse von Berlin. Die taz hat mit der jungen Aktivistin Lina Johnsen gesprochen.
  • Der Tagesspiegel mit einer Sammlung von Reaktionen inklusive der des Bundeskanzlers zu den Protestaktionen der Letzten Generation.
  • Stefan Niggemeier schreibt für Übermedien über die Rolle der Medien und darüber, warum eine echte Debatte aktuell kaum möglich ist.
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Die Klimaproteste waren aber nicht der einzige Aufreger der vergangenen Woche:

  • Auch wenn es um die Präsenz oder Abwesenheit christlicher Symbole im öffentlichen Raum geht, kann man auf eine lebhafte Debatte vertrauen. Anlässlich des G7-Treffens hat das Auswärtige Amt ein Kreuz aus dem Münsteraner Rathaus entfernt. Das brachte Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (der mit Amtschefin Baerbock eh gerne mal über Kreuz liegt) auf den Plan („In keinem anderen Land der Welt würde sowas passieren”). Anders als beispielsweise die Bild-Zeitung berichtete, verlautbarte das Auswärtige Amt, dass es keine politischen oder religiösen Gründe waren, die das Kreuz zu Boden brachte. Den Shitstorm im Netz hielt das aber nicht mehr auf.
  • Das Verhältnis von Kirche und Staat brachte auch Claudia Roth in die Schlagzeilen. Hier war die Intention gleichwohl klarer: Ein umstrittenes Bibelzitat am Berliner Stadtschloss soll mit einer Lichtinstallation überdeckt werden.
  • Eine ganz weltliche Klatsche holte sich gestern der Oberbürgermeister von Frankfurt am Main, Peter Feldmann, der sich derzeit wegen des Vorwurfs der Vorteilsnahme vor einem Frankfurter Gericht verantworten muss. Überdeutliche 95 % aller Wähler:innen stimmten in einem Bürgerentscheid gegen den Sozialdemokraten, der in den letzten Monaten eindrücklich dargestellt hat, wie politische Fehlerkultur nicht aussehen sollte. Wie es nach Feldmanns Abwahl weitergeht, erklärt die Hessenschau.
  • Einen Fehler machte auch der SPD-Fraktionsvorsitzende Rolf Mützenich. Im Rahmen des SPD-Debattenkonvents behauptete er, auf einer „Terrorliste” der Ukraine zu stehen, weil er sich für einen Waffenstillstand einsetzt. Mützenich glaubte, bei einer nicht-öffentlichen Veranstaltung zu sprechen. Seine Äußerungen sprachen sich schnell bis nach Kiew herum, von wo auch bald eine Antwort folgte. Mützenich relativierte sein Zitat im Nachhinein.
  • Darüber hinaus gab es neben dem Debattenkonvent der SPD viele Parteitage: der Bundeskongress der Jungen Liberalen, der Parteitag der FDP Sachsen, der Parteitag der CDU Sachsen, der Parteitag der Linkspartei Sachsen, der Parteitag der AfD Thüringen und der Parteitag der SPD Hamburg.

Auch Angela Merkel bekam eine Ansage und zwar direkt von der Bundesregierung. Die ehemalige Bundeskanzlerin verfüge über eine „zu opulente“ Ausstattung in ihrem Büro, so die Kritik. Vor allem die Personalausstattung solle fortan bedarfsgerecht gestaltet und Reisekosten nur in Einzelfällen über den Bund abgerechnet werden. Kurzum: Auch Merkel muss sparen.

 

Mit den besten Grüßen zum Wochenstart

Philipp Sälhoff

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JoinPolitics eröffnet neue Bewerbungsrunde

Die Initiative JoinPolitics sucht wieder politische Talente. Bis zum 8. Januar 2023 können sich vielversprechende Köpfe mit innovativen politischen Ideen bewerben. JoinPolitics unterstützt erfolgreiche Kandidati:nnen mit einer Starthilfe von bis zu 50.000 Euro, Know-How und ihrem Netzwerk. Zu den Alumni der Förderung gehören unter vielen anderen Verena Hubertz (2021), die schließlich in den Bundestag und zur stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden der SPD gewählt wurde, Tiaji Sio (2022), die Gründerin des Netzwerks Diplomats of Color, und Susanne Zels (2020), die sich…

Öffentliche Ringvorlesung über liberale Weltordnung

Eine öffentliche und per Livestream übertragene Ringvorlesung an der Freien Universität Berlin beschäftigt sich ab sofort mit der Zukunft des „liberalen Skripts“. Wie reagieren liberale Gesellschaften auf die geopolitische Schwächung des liberalen Konzepts durch China und den wachsenden Protest gegen Ungerechtigkeiten? Wird das „liberale Skript“ untergehen? Wird es gestärkt aus den Krisen hervorgehen? Diesen Fragen gehen ab sofort bis Februar 2023 wöchentliche Sitzungen des Exzellenzclusters „Contestations of the Liberal Script“ nach….

Große Sorgen um Klimawandel und Inflation

Klimawandel und Inflation sind derzeit die größten Ängste der Deutschen, so der ARD-Deutschlandtrend vom 3. November. Jeweils 66 % der Befragten machen sich über diese Themen Sorgen. 61 % nennen die Gefahr, dass Russland noch weitere Länder in Europa angreifen könnte. Während für etwa die Hälfte (53 %) auch die Angst vor zu viel Migration eine Rolle spielt, ist Corona beziehungsweise eine Zunahme der Infektionen mit 31 % für deutlich weniger…

Jede:r Fünfte glaubt pro-russischen Verschwörungserzählungen

Das zeigt eine Befragung der auf Desinformation und Radikalisierung spezialisierten Forschungsinitiative CeMAS. Demnach meinten 19 %, dass der russische Angriffskrieg eine alternativlose Reaktion Russlands auf eine Provokation der NATO sei, zusätzliche 21 % stimmten dieser Aussage teilweise zu. Im April lag die Zustimmung noch bei 12 % und 17 % teilweise Zustimmung. Insbesondere in Ostdeutschland findet diese These mit 33 % Zustimmung (26 % teils) Anklang, während sie Westdeutschland lediglich 16 %…

Antisemitische Posts werden kaum gelöscht

Nur drei von insgesamt 125 antisemitischen Inhalten auf sozialen Netzwerken wurden nach einer Meldung innerhalb von 24 Stunden gelöscht. Dies zeigten Abgeordnete des EU-Parlaments und kanadische Parlamentarier:innen in einem Beitrag von report München. So entfernte Facebook lediglich einen von 50 antisemitischen Inhalten. Auf YouTube kam es ebenfalls nur bei einem von 34 und auf Twitter bei einem von 41 Hassbeiträgen zur Löschung. In der EU haben sich soziale Netzwerke auf freiwilliger Basis…

Wahltrend
Wahltrend

Der pollytix-Wahltrend zur Sonntagsfrage, Vorwochenvergleich in gefärbten Zahlen. Die Angaben berechnen sich aus dem gewichteten Mittel aller Sonntagsfragen der letzten 20 Tage. Den kompletten Wahltrend und alle Einzelumfragen finden Sie hier, mehr zur Methodologie hier.

Buch der Woche

Annett Meiritz & Juliane Schäuble

Guns n’ Rosé. Konservative Frauen erobern die USA

Die Sorge, dass die politische Kultur in den USA durch die Polarisierung zwischen Demokrat:innen, gemäßigten Republikaner:innen und Trumpist:innen weiter Schaden nimmt, ist vor den anstehenden Midterms groß. Welche Rolle ultrakonservative Frauen dabei in der amerikanischen Politik momentan spielen, beleuchten Annett Meiritz und Juliane Schäuble in ihrem Buch. Hierzulande kaum wahrgenommen, sei diese Gruppe bei den Republikanern zu einem echten Machtfaktor geworden, so die These der beiden USA-Korrespondentinnen.

Sie betrachten die Vernetzung und Organisation entsprechender Frauengruppen, deren zentrale Themen – wie der Kampf gegen das Abtreibungsrecht oder die Bildungspolitik -, aber auch die mediale Präsenz rechter Frauen und ihre Diversität. So entsteht ein facettenreicher und spannender Blick auf die aktuelle US-Politik. Dabei wird zum einen deutlich, dass viele der beschriebenen Akteurinnen unterschätzt werden, aber tatsächlich selbst Ämter und Macht übernehmen wollen. Und zum anderen, wie weit verbreitet radikale Positionierungen in der Republikanischen Partei bereits sind, weil moderates Auftreten mittlerweile als ein Makel gilt, der das Vorankommen der Protagonistinnen behindert.

Benjamin Triebe

Tweet der Woche

@Phonz

bye literally everyone

Der vergangene Freitag war ein schwarzer Freitag für rund die Hälfte der Belegschaft von Twitter. Tausende Angestellte verloren ihre Jobs, so wie das Team rund um @phonz, das sich mit einem Tweet verabschiedete, den es nicht mehr senden konnte. Es dürfte nur ein kleiner Trost sein, dass Twitter jetzt wohl einige Kündigungen doch bereut und offenbar diese Mitarbeitenden zurückholen will.

Mareile Ihde

Stakeholder der Woche
WeltkongressLogo-Website

Weltkongress der Uiguren

Der 2004 gegründete Weltkongress der Uiguren fungiert als Repräsentation und Oppositionsbewegung der uigurischen Minderheit im In- und Ausland und setzt sich international für ein Ende der Menschenrechtsverletzungen und eine Lösung des Konflikts in der Region Xinjiang/Ostturkestan ein. Zentrale Forderungen, die durch gewaltlose und friedliche Mittel erreicht werden sollen, sind Freiheit, Menschenrechte sowie demokratische Partizipations- und Gestaltungsmöglichkeiten für das uigurische Volk. Präsident der Organisation mit Sitz in München ist seit 2017 der uigurische Aktivist Dolkun Isa.

Gregor Bauer

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7. November 2022