Geschichte eines Machtworts

Die politnews vom 24. Oktober 2022

Zivilgesellschaft weltweit unter Druck | Radikalisierung durch Heizkosten | Wahlalterabsenkung erhöht Wahlbeteiligung | Deutsche MdEP am mächtigsten | Medienpreis für digitale Aufklärung u.v.m.

WAHLTREND: SPD wieder im Aufwind | BUCH: Die Akte Scholz. Der Kanzler, das Geld und die Macht| TWEET: Frau Dittert flucht | STAKEHOLDER: Bundesamt für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung (BASE)

Liebe Leserin, lieber Leser,

die schärfsten politischen Schwerter wirken im Waffenschrank besser als im Einsatz. Zeigt letzterer doch auch immer, dass man gezwungen ist, auf sie zurückzugreifen. Aber genau das tat Olaf Scholz in der letzten Woche, als er den Atom-Streit zwischen Grünen und FDP beziehungsweise Vizekanzler Robert Habeck und Finanzminister Christian Lindner qua Richtlinienkompetenz beendete. Selbst mehrfache, vom Kanzler höchstselbst durchgeführte, Mediationen brachten vorher keinen Erfolg. Erstaunlicherweise wirkten alle Beteiligten nach dem Machtwort des Kanzlers aber fast erleichtert und gelobten Besserung.

War Scholz’ politischer Schachzug am Ende keine einsame Entscheidung, sondern ein Schachzug, der Habeck und Lindner ermöglichte, einigermaßen gesichtswahrend aus der Atomstreit-Nummer herauszukommen? Der SPIEGEL (€) hat den gesamten Disput im Detail rekonstruiert und auch diese Interpretation steht im Raum. Mehr Hintergründe zum „Machtwort”:

  • Die Tagesschau mit einer juristischen Einordnung, was Richtlinienkompetenz eigentlich bedeutet.
  • Die Richtlinienkompetenz kommt aus den genannten Gründen selten zum Einsatz. Michael Hesse erklärt für die Frankfurter Rundschauwer sie bisher ausgeübt hat.
  • Kristina Dunz sieht für das RND durch Scholz’ Ansage alle Ampel-Partner beschädigt.
  • Der offizielle Brief, den das Bundeskanzleramt an die beiden Minister und Kollegin Lemke schickte.
  • Brigitte Fehrle kommentiert für den Deutschlandfunk, welches Risiko Scholz mit seinem Machtwort eingegangen ist.

Wie eine formvollendete Regierungskrise aussieht, bei der auch keine Machtworte mehr helfen, konnte man in den letzten Wochen bzw. Monaten bzw. Jahren in Großbritannien beobachten. Es ist keine zwei Monate her, dass Liz Truss als neue Premierministerin vereidigt wurde und schon ist sie wieder Geschichte. Mit dem zweifelhaften Rekord der kürzesten Amtszeit in Number 10. Ihr zuvor unterlegener Konkurrent und ehemaliger Finanzminister Rishi Sunak wird nun Nachfolger. Florian Pütz mit allem, was man über den Millionär und neuen Regierungschef wissen muss. Zu welch rhetorischer Höchstleistung die Dauerkrisen-Berichterstattung aus Westminister Korrespondentin Dittert führte, zeigt unser Tweet der Woche (siehe unten).

Der im Juli zurückgetretene Churchill-Verehrer Boris Johnson brachte sich, wie sein Vorbild, auch kurzzeitig für eine Rückkehr ins Amt in Stellung. Gestern Abend gab er aber schon wieder auf. Selbst vielen Tories wäre das dann doch zu absurd gewesen.

  • Internationale Pressestimmen zum Rücktritt von Liz Truss hat eurotopics gesammelt.
  • Die verrückte Wette des Daily Star: Ein Salatkopf hielt länger durch als Truss.
  • Der Verfassungsblog erklärt, was eine vor dem High Court klagende Schildkröte namens Archie mit dem katastrophalen Zustand der Tories zu tun hat.

Was Fluktuation an der Regierungsspitze angeht, liegt Großbritannien damit aber immer noch nicht auf italienischem Niveau. Dort übernahm am Samstag Giorgia Meloni als neue Regierungschefin – die 7. in den letzten 10 Jahren. Unter befreundeten Staaten verlangt die Gepflogenheit Glückwünsche bei Amtsantritt. So tat es – neben vielen anderen – auch Olaf Scholz. Auf diplomatisch formulierte Kritik an der Ultrarechten, wie sie Altkanzlerin Angela Merkel in ihre Glückwünsche an US-Ex-Präsident Donald Trump einbaute, verzichtete der Kanzler. Andererseits machte er implizit deutlich, dass er eine Zusammenarbeit auf multilateraler Ebene erwarte und baute – ungewöhnlicherweise – ein Lob des Vorgängers Draghi in seine Glückwünsche ein. Scholz war mit seiner Gratulation an die „Postfaschistin” freilich nicht allein. Ursula von der Leyen ließ genauso wie andere Regierungschef:innen, darunter auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj wissen, dass sie der neuen Regierung gutes Gelingen wünsche. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach kritisierte zwar nicht Scholz, sondern von der Leyen, machte aber mit seinem Tweet sehr deutlich, was er von Glückwünschen an Meloni, für deren Bündnis eine Mehrheit der Italiener:innen in freien Wahlen stimmte, hielt.

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In China sind solche Machtwechsel undenkbar, erst recht nach dem Kongress der Kommunistischen Partei, die eine Machtdemonstration von Staatspräsident und Generalsekretär Xi Jinping war. Xi hat die Partei noch weiter unter seine Kontrolle gebracht. Wie sehr, demonstrierte er auch mit der Demütigung des früheren KP-Chefs Hu Jintao, den er vor laufenden Kameras abführen ließ (Video). Stefan Kornelius kommentiert in der Süddeutschen (€), warum dieses Schauspiel nur für die Weltöffentlichkeit, nicht aber für die innerchinesischen Dynamiken von Belang war und wonach Xi als Nächstes zu greifen versuchen wird: Nämlich nach der Weltmacht.

Um China geht es auch, wenn Olaf Scholz demnächst ein weiteres Machtwort sprechen könnte, orakelt Philipp Eckstein. Dabei geht es um nichts Geringeres als seinen Heimathafen.

 

Mit den besten Grüßen zum Wochenstart

Philipp Sälhoff

Aktuelle politjobs
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    Sekretär:in der Abteilungsleitung (m/w/d)SPD-Parteivorstand | Berlin, Deutschland | Bewerbungsfrist: 05.05.2024 | Finanzen & Controlling, Kommunikation & Social Media, Operations, Projektmanagement
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    Referent:in für politische Kommunikation (m/w/d)Deutscher Bibliotheksverband e. V. (dbv) | Berlin, Deutschland | Bewerbungsfrist: laufend | Kommunikation & Social Media,…
  • Geschäftsführer:in (m/w/d)Geschäftsführer:in (m/w/d)
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    Mitarbeiter:in (m/w/d) für die Presse- und ÖffentlichkeitsarbeitBUND Landesverband Nordrhein-Westfalen | Düsseldorf, Deutschland | Bewerbungsfrist: laufend | Kommunikation & Social Media
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    Referent:in Recht (m/w/d)Bundesverband Deutscher Omnibusunternehmen e.V. | Berlin, Deutschland | Bewerbungsfrist: laufend | Recht
  • Communications Officer (m/f/x)Communications Officer (m/f/x)
    Communications Officer (m/f/x)International Holocaust Remembrance Alliance | Berlin, Deutschland | Bewerbungsfrist: laufend | Communications & social media, Project Management
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    Mitarbeiter:in (m/w/d) im Dialogmarketing und AdressmanagementSPD-Parteivorstand | Berlin, Deutschland | Bewerbungsfrist: 26.04.2024 | Administration & Büromanagement, Kommunikation & Social Media,…
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    Referent:in (w/m/d) Beteiligung und OrganizingSPD-Parteivorstand | Berlin, Deutschland | Bewerbungsfrist: 26.04.2024 | Administration & Büromanagement, Kommunikation & Social Media, Projektmanagement,…
Politticker
Deutsche Abgeordnete im Europaparlament am mächtigsten

Die 96 deutschen Abgeordneten sind die im Verhältnis zu ihrer Größe die einflussreichste und aktivste Delegation des Parlaments. Das geht aus einer Studie der Forschungsplattform EU-Matrix hervor. Demnach haben die hiesigen MdEP insbesondere durch viele leitende Positionen in Verwaltung, Fraktionen und Ausschüssen besonderen Einfluss. Als einflussreichste Abgeordnete wurden Parlamentspräsidentin Roberta Metsola und EVP-Chef Manfred Weber eingestuft.

Zivilgesellschaften weltweit unter Druck

Weltweit leben nur noch 11 % der Menschen in Staaten mit ungehinderter Meinungsfreiheit, so der diesjährige Atlas der Zivilgesellschaft. Demnach leben 88 % aller Menschen in Staaten, in denen die Zivilgesellschaft „beschränkt“ (18 %), „unterdrückt“ (44 %) oder „geschlossen“ (26 %) ist. 14 Staaten wurden herabgestuft, darunter Belgien und Tschechien (von „offen“ zu „beeinträchtigt“), Polen (von „beeinträchtigt“ zu „beschränkt“) und Belarus (von „unterdrückt“ zu „geschlossen“). Lediglich die Mongolei konnte sich…

Herabsetzung des Wahlalters erhöht Wahlbeteiligung

Die Herabsetzung des Wahlalters auf 16 Jahre hat einen nachhaltigen Effekt auf die Wahlbeteiligung, so eine Analyse der London School of Economics. Junge Menschen, die bereits im Alter von 16 oder 17 Jahren wählen konnten, beteiligen sich auch nach ihrem achtzehnten Lebensjahr überdurchschnittlich an Wahlvorgängen. So verzeichnen Bundesländer mit einem Wahlalter von mindestens 16 Jahren einen durchschnittlichen Anstieg der Wahlbeteiligung von 4,6 Prozentpunkten bei den 18- bis 20-Jährigen und 8,6…

Anzeichen für Radikalisierung durch Heizkosten

Die politischen Ränder fühlen sich besonders stark durch steigende Heizkosten belastet. Laut einer Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach (€) gehören 19 % derjenigen, die sich stark bis sehr stark durch steigende Heizkosten belastet fühlen, dem rechtsradikalen oder ausgeprägt rechten Spektrum an. 14 % werden der ausgeprägt linken oder linksradikalen Wähler:innenschicht zugeordnet. Lediglich 35 % der durch die Heizkosten stark Belasteten gehören der politischen Mitte an. Thomas Petersen, Herausgeber der Umfrage,…

Medienpreis für digitale Aufklärung

Ein Text über das Metaverse hat den Medienpreis für digitale Aufklärung gewonnen. Am 19. Oktober wurden insgesamt sechs herausragende journalistische Beiträge zur digitalen Transformation der Gesellschaft ausgezeichnet. Gewinner der Kategorie Geschriebenes Wort ist Gabriel Rinaldi mit „Leben wir bald im Metaverse“. SWR-2-Reporter David Beck setzte sich in der Kategorie Gesprochenes Wort mit „Wie sich das Internet abschalten lässt“ durch. Mit dem Sonderpreis „Bewegtbild“ ehrte die 7-köpfige Jury einen Faktencheck zu…

Wahltrend
Wahltrend (1)

Der pollytix-Wahltrend zur Sonntagsfrage, Vorwochenvergleich in gefärbten Zahlen. Die Angaben berechnen sich aus dem gewichteten Mittel aller Sonntagsfragen der letzten 20 Tage. Den kompletten Wahltrend und alle Einzelumfragen finden Sie hier, mehr zur Methodologie hier.

Buch der Woche

Oliver Schröm & Oliver Hollenstein

Die Akte Scholz. Der Kanzler, das Geld und die Macht

Die derzeit diskutierte Entscheidung des Kanzleramts, Teile des Hamburger Hafens gegen den Widerstand von sechs Bundesministerien an einen chinesischen Staatskonzern zu verkaufen, wirft nicht nur ein Schlaglicht auf die Führungsweise von Olaf Scholz, sondern auch auf seine Beziehung zur Hansestadt. Seine Zeit als Hamburger Bürgermeister zwischen 2011 und 2018 wird nämlich immer noch vom Warburg-Skandal überschattet, den Oliver Schröm und Oliver Hollenstein in ihrem aktuellen Buch chronologisch aufarbeiten. Im Zentrum steht die Frage, ob die Inhaber der stadtbekannten Warburg-Bank damals in mehreren Treffen Einfluss auf Olaf Scholz genommen haben, um mit Cum-ex-Geschäften ergaunerte Steuermillionen nicht an den Staat zurückzahlen zu müssen.

Die beiden Journalisten beschreiben zum einen den Fall Warburg, inklusive vieler Indizien und Merkwürdigkeiten – und entfalten dabei ein eindrückliches Panorama der Verbindungen von Politik, Behörden und Wirtschaft in der Hansestadt. Zum anderen geben sie aber auch spannende Einblicke in den Kreis der Vertrauten um den heutigen Bundeskanzler und in die „Methode Scholz”: Akten fressen, Coolness zur Schau stellen, Niederlagen an sich abperlen lassen. Aber die Schilderungen seines politischen Wirkens in Hamburg sowie der Reaktionen auf die Warburg-Enthüllungen zeigen ebenso, was passiert, wenn er und sein Umfeld unter Druck geraten. Ein Must-read für alle politischen Beobachter der Bundesregierung.

Benjamin Triebe

Tweet der Woche

@annettedittert

Frau Dittert flucht

Im Vereinigten Königreich liegen die Nerven blank. Wie blank, das konnte man in der Tagesschau besichtigen. Annette Dittert, ARD-Korrespondentin in London, fluchte in ihrer Schalte wie ein Bierkutscher. Es waren allerdings nicht ihre Worte, sondern sie zitierte lediglich, was sich kurz vor Liz Truss’ Rücktritt in den Räumen des britischen Unterhauses abspielte. Nicht nur die Briten feierten es; Frau Dittert ging viral.

Mareile Ihde

Stakeholder der Woche
BASELogo-Website

Bundesamt für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung

Das 2014 gegründete Bundesamt für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung (BASE) hat die Aufgabe, den sicheren Umgang mit hochradioaktiven Hinterlassenschaften zu bewerkstelligen. Zu den Aufgaben von BASE gehören Regulierungs-, Genehmigungs- und Aufsichtsaufgaben im Bereich Endlagerung und Zwischenlagerung sowie die Koordination von Forschungsprojekten. Das Amt wird von Wolfram König geleitet. Im Rahmen der aktuellen AKW-Debatte hat sich BASE vor allem mit Fragen der Sicherheit beschäftigt.

Gregor Bauer

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24. Oktober 2022