Liebe Leserin, lieber Leser,
wir haben viele Scherze über die Wahlrechtsreform gemacht. Dass sie kommt, wenn der BER-Nachfolger fertiggestellt ist, Donald Trump den Friedensnobelpreis bekommt oder UIf Poschardt Ehrenmitglied der Letzten Generation wird.
Doch nun ging es am Ende verhältnismäßig schnell: Am Freitag nahm der Bundestag den Vorschlag der Ampelkoalition mit 399 Ja-Stimmen an. Dabei haben nur drei Abgeordnete der Koalitionsfraktionen nicht zugestimmt – alle drei kommen aus dem SPD-Landesverband Mecklenburg-Vorpommern. Das mag auch daran liegen, dass gerade die Repräsentanz des Ostens im künftigen Parlament durch die neue Reform geschwächt werden könnte: zum einen durch das Wegfallen von Direktmandaten mit sehr knappen Siegern, zum anderen durch das mögliche Ausscheiden der Linken ohne die Grundmandatsklausel. Das komplette namentliche Abstimmungsverhalten gibt es hier.
„Zutiefst undemokratisch”, „Akt der Respektlosigkeit” und „Anschlag auf den Grundpfeiler der Demokratie”: Die Opposition überschlug sich erwartungsgemäß in der Kritik, insbesondere die CSU. Für sie könnte das neue Wahlrecht sogar den Abschied aus dem Bundestag bedeuten. Bei der letzten Wahl holten sie zwar 31,7 % in Bayern, aber damit eben nur 5,2 % im Bund, gerade mal 0,3 Punkte vor der Linken, die sich dank der nun abgeschafften Grundmandatsklausel ins Parlament retten konnte. Die Lage ist also ernst.
- Ex-Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble beklagt sogar einen „gezielten Angriff auf die CSU”.
- Die Sonderrolle der CSU „ist zwar historisch eingeübt, aber systemisch fragwürdig”, erklärt Christoph Möllers, Berater der Ampel-Parteien und Jurist, im SPIEGEL-Interview.
- Die Christsozialen inszenieren sie sich gern als “bedrohte Minderheit“, meint Ursula Münch von der Akademie Tutzing. Trotzdem habe sich gerade die FDP mit der Neuregelung ein „massives Eigentor” geschossen (übrigens ähnlich wie aktuell im Haushaltsstreit mit dem Kanzleramt).
Ob das neue Wahlrecht Grundgesetz-konform ist und 2025 tatsächlich zur Anwendung kommt, wird sehr wahrscheinlich das Bundesverfassungsgericht entscheiden, da der CSU-Vorstand am Samstag bereits eine entsprechende juristische Beschwerde beschlossen hat. Auch Bodo Ramelow und die Linke erwägen eine Klage, da sie eine regional angemessene Mandatsverteilung und Repräsentanz der politischen Kräfteverhältnisse gefährdet sehen. Aus machtpolitischer Sicht von Linkspartei und CSU ist der Frust verständlich. Aber die Gefahr, dass ein Wahlkreisgewinner nicht in den Bundestag einzieht, ist durchaus real. Heinrich Wefing sieht eine „Entwertung der Erststimme”.
Eine Partei muss sich jedoch keine Gedanken machen: Der Südschleswigsche Wählerverband (SSW) ist als Vertretung der einer regionalen (i. d. F. dänischen) Minderheit nicht von der Streichung der Grundmandatsklausel betroffen und kann weiterhin auf einen Sitz im Parlament hoffen. Wer sich eigentlich über die Entscheidung freuen könnte, ist der Bund der Steuerzahler, der durch die Reduzierung der Abgeordnetenzahl ein enormes Einsparpotenzial von 340 Millionen Euro pro Legislaturperiode sieht.
Weitere Informationen und Hintergründe:
- Wie der Bundestag mit der neuen Reform aussehen würde, haben Christian Endt, Lenz Jacobsen und David Schach für die Zeit (€) analysiert.
- Die Auseinandersetzung um das Wahlrecht geht übrigens auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2012 zurück, als die im Jahr zuvor durchgesetzte Wahlrechtsreform für verfassungswidrig erklärt wurde. Der Spiegel berichtete über die damalige „Schlappe für Schwarz-Gelb”.
- Viele Expert:innen haben die Bundesregierung bei ihrem Vorhaben beraten. Anna Lehmann und Tobias Schulze von der taz beleuchten die Rolle der Sachverständigen.
- Die kurzfristig aufgenommene und besonders umstrittene Streichung der Grundmandatsklausel war jedoch nicht Bestandteil der Expertise, wie Dietrich Herrmann und Veit Medick auf Twitter hervorheben.
- Maximilian Steinbeis vom Verfassungsblog über die Gefahren und internationalen Erfahrungen eines polarisierten politischen Streits in Wahlrechtsfragen.
- Die Bundestags-Debatte zur Abstimmung gibt es hier in der Zusammenfassungund im Mitschnitt.
Die nächste Wahlrechtsreform kündigt sich derweil schon an: So plant die Ampel-Koalition laut Bundestagspräsidentin Bärbel Bas ein weiteres Reformpaket zu den Punkten aktives Wahlrecht ab 16, höherer Frauenanteil im Parlament sowie Verlängerung der Legislaturperiode auf fünf Jahre. Wir behalten die Tweets von Ulf Poschardt also weiterhin im Auge.
Der regt sich auch gern über die landespolitischen Absurditäten der Hauptstadt auf. Diese Liste ist nun um eine Posse von filmreifem Ausmaß reicher: Ein Handelsblatt-Journalist machte jahrelang unter falschem Namen (in gewitzter Manier Matthias Brückmann statt Mathias Brüggmann) Bezirkspolitik in der SPD Pankow, zum Teil unter Zuhilfenahme eines falschen Bartes. Nun flog er auf, nachdem er in der RBB-Abendschau zu sehr über Franziska Giffey gemotzt hatte. Und es ist nicht das erste Mal, dass Brüggmann für Irritationen sorgt: Vor sieben Jahren verkleidete er sich als falscher „Brexit-Fan”. Was es damit auf sich hatte, hat Hanfeld von der FAZ dokumentiert.
Reaktionen auf tatsächliche Filme gab es, nachdem „Im Westen Nichts Neues” vor genau einer Woche den deutschen Oscar-Rekord mit vier Trophäen aufstellte. Die Berliner Zeitung hat die Reaktionen aus der Politik gesammelt. Warum der Erfolg aber gar nicht so viel mit der Deutschen Filmförderpolitik zu tun hat, erklärt Christiane Peitz beim Tagesspiegel.
Mit den besten Grüßen zum Wochenstart am heutigen Weltglückstag, an dem der neue World Happiness Report Deutschland einen 16. Platz, weit entfernt von Seriensieger Finnland, bescheinigt.
Mit den besten Grüßen zum Wochenstart
Philipp Sälhoff
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Deutschland muss mehr in Abschreckung und Verteidigung investieren sowie die Zivilgesellschaft stärker in sicherheitspolitische Überlegungen einbinden. Dies fordert die Friedrich Naumann Stiftung in einem aktuellen Policy Paper. Es behandelt vor allem die historische Entwicklung und die Bedeutung konventioneller wie nuklearer Abschreckung. Die Voraussetzungen für eine funktionelle Abschreckungspolitik seien letztlich die Glaubwürdigkeit verteidigungsfähiger Staaten und eine breite strategische Sicherheitskultur.
Deutschland tut zu wenig gegen Korruption. Zu diesem Ergebnis kommt das Antikorruptionsgremium Greco des Europarats in seinem aktuellen Umsetzungsbericht. Demnach habe die Bundesrepublik bisher nur eine von 14 Empfehlungen aus dem Jahr 2020 vollständig umgesetzt. Zudem wird zwar die Einführung des Lobbyregisters gelobt, aber bei der Transparenz von Gesetzgebungsverfahren, bei den Kontakten zu Lobbyist:innen und den Wechseln von Politiker:innen in die Privatwirtschaft bestehe weiterer Handlungsbedarf.
Unter welchen Leitlinien sollte die viel zitierte feministische Außenpolitik stehen? Zu dieser Frage hatte das Auswärtige Amt im vergangenen Jahr einen Call for Papers veröffentlicht. Die Einreichungen von mehr als 40 Expert:innen aus Wissenschaft, Politik und Journalismus sind jetzt abrufbar und geben einen Einblick in die vielfältigen Ideen und Vorstellungen zu den zentralen Prinzipien, Instrumenten und Handlungsweisen für eine feministische Außenpolitik.
Mit Spitzenpolitiker:innen einfach mal über ihr Herzensthema diskutieren? Das ist der Ansatz des neuen Podcasts “Ehrlich jetzt?”der Zeit-Redakteurin Yasmine M’Barek, der jeden zweiten Dienstag erscheinen soll. In der ersten Folge spricht sie mit dem Generalsekretär der SPD Kevin Kühnert unter anderem über die Kleidung von Olaf Scholz als politisches Instrument, das schwierige Verhältnis des linken Spektrums zur Macht sowie über politische Positionen, die man später bereut.
Neutrale Twitter-Beiträge von Politiker:innen werden oft mit Hass beantwortet. Dies ist ein Ergebnis der Analyse des Bundestagswahlkampfs 2021 auf Twitter durch das IW Köln. Dafür wurden 3.082 Wahlkampftweets und 349.370 Replies mithilfe einer KI hinsichtlich der Themen und Tonalität klassifiziert. Dabei zeigte sich, dass aggressive Reizreflexe dominieren, selbst gegenüber neutral formulierten Botschaften sowie unabhängig von den Themen und der Parteizugehörigkeit.
- Internationaler Strafgerichtshof: Haftbefehl gegen Putin erlassen & So belegen Reporter:innen Kriegsverbrechen
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Reinhard Bingener & Markus Wehner
Die Moskau-Connection. Das Schröder-Netzwerk und Deutschlands Weg in die Abhängigkeit
Deutschland hat seine Abhängigkeit von russischem Gas und Öl in den vergangenen zwölf Monaten stark reduziert und zumindest den ersten Winter seit Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine energiepolitisch weithin überstanden – vor allem durch finanzielle Kraftanstrengungen. Doch wie konnte es überhaupt zu dieser Abhängigkeit kommen? Warum wurde sie nach der Krim-Annexion 2014 mit dem Bau von Nord Stream 2 und dem Verkauf vieler Gasspeicher an Gazprom sogar noch vergrößert? Und welche Rolle spielte die deutsche Politik unter Gerhard Schröder und Angela Merkel dabei?
Antworten auf diese und weitere Fragen suchen Reinhard Bingener und Markus Wehner in ihrem Buch über die Moskau-Connection der deutschen Politik. Die beiden Journalisten der FAZ widmen sich besonders Schröders Netzwerk in Politik und Wirtschaft und wie dieses die Russlandpolitik der SPD und damit der Bundesrepublik seit 1998 geprägt habe. Sie betrachten zudem, wie in Deutschland das Bild von Russland als einem verlässlichen Energie-Lieferanten entstehen konnte, gepaart mit einer lange Zeit vorherrschenden Naivität und Verharmlosung gegenüber Putins Herrschaftssystem. Dass all diese Punkte weiterhin der Aufarbeitung bedürfen, zeigen z.B. die aktuellen Auseinandersetzungen um die „Stiftung Klima- und Umweltschutz“ in Mecklenburg-Vorpommern, die im Buch ebenfalls Thema ist. Insgesamt bieten die beiden Autoren einen spannenden und kritischen Einblick in die Möglichkeiten und Details politischer Einflussnahme, die über persönliche Netzwerke und Verbindungen erfolgt.
Die Buchempfehlungen finden Sie ab sofort auch unter www.politbooks.de.
Benjamin Triebe
Diplomatischer Tanzbattle
Digital Diplomacy mal ganz anders: Der deutsche Botschafter in Indien, Philipp Ackermann, ließ sich von seinen südkoreanischen Kolleg:innen inspirieren, folgte der Einladung zu einem (rein pazifistischen) Natuu-Tanzbattle und hielt das auf Twitter fest. Da machte auch Außenpolitik-Expertin Constanze Stelzenmüller große Augen.
Wir freuen uns auf weitere Beiträge zur #embassychallenge!
Mareile Ihde
Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft
Aus der Deutschen Hochschule für Politik (DHfP) hervorgegangen, blickt das Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft an der FU Berlin auf eine wechselvolle Geschichte zurück. Als größtes politikwissenschaftliches Institut der Bundesrepublik bietet es ein breites Portfolio an Lehrveranstaltungen im Grund- und weiterführenden Studium an. In der Forschung fokussiert sich das OSI u.a. auf die Bereiche der Internationalen Beziehungen und Regionalstudien zu Osteuropa und Russland. Im Bereich des politischen Systems der Bundesrepublik beschäftigt es sich besonders mit Wahlsystemen und dem Wahlrecht. Geschäftsführender Direktor des OSI ist derzeit Prof. Dr. Thorsten Faas.
Gregor Bauer
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