Liebe Leserin, lieber Leser,
Finnland ist ein Land, das nur selten in der hiesigen Debatte vorkommt – von Bildungsrankings, Saunen und lustigen Wortschöpfungen mal abgesehen. Doch seit sich das EU-Mitglied angesichts der russischen Invasion der Ukraine für den NATO-Beitritt entschieden hat, ist die Politik Helsinkis auch in Deutschland präsenter und damit auch Sanna Marin, die bei ihrem Amtsantritt 2019 die jüngste Regierungschefin der Welt war.
Genau diese machte Ende letzter Woche unfreiwillig von sich reden. Ein geleaktes Partyvideo zeigt die Sozialdemokratin in bester Laune feiernd. Wenn Sie das Video noch nicht gesehen haben, gibt es das hier. Aber als Vorwarnung: Marin macht nicht nur klarere Ansagen an Putin als die gesamte deutsche Spitzenpolitik der letzten Jahrzehnte, sondern tanzt auch besser.
Schnell entflammte eine Debatte, ob das Verhalten des Amtes würdig oder gar ein nationales Sicherheitsrisiko darstellt. Dazu kam noch ein – ebenfalls ohne ihr Wissen aufgenommenes – Video, das die verheiratete Mutter beim engen Tanzen mit dem finnischen Sänger Olavi Uusivirta zeigt. Matthias Wyssuwa fasst die Aufregung für die FAZ zusammen.
Der Fall wirft vor allem die Frage auf, wie sicher ein:e Politiker:in sich überhaupt noch im vermeintlich Privaten fühlen kann. Gerade in Zeiten, in denen Doxxing und Hacks an der Tagesordnung sind. Auch in Deutschland hat vor fast vier Jahren ein Doxxing-Fall Aufsehen erregt, dessen Opfer unter anderem Robert Habeck geworden ist.
Wer einer Politikerin allerdings einen Vorwurf daraus macht, dass sie auch in Krisenzeiten im privaten Rahmen Spaß hat, war ihr auch schon vorher nicht wohlgesonnen. Dennoch: Entscheidend wird sein, wie ihre SDP-Wählerschaft reagiert.
Weitere Hintergründe zum Pseudo-Skandal:
- Nach anfänglicher Verwirrung um vermeintlichen Rauschgift-Konsum hat sich Marin nun einem Drogentest unterzogen. DW-Gastkommentatorin Minna Alander über einen “typisch finnischen Skandal eines verklemmten Politikbetriebs” und ein Kokain-Synonym, das gar keines ist.
- Einig sind sich alle, dass Finnland wichtigere Probleme hat: Was in der letzten Woche “eigentlich” dort passiert ist, sammelt ein Thread.
- Eine unmissverständliche Solidaritätsreaktion zeigten dänische und finnische Frauen auf Social Media: Sie posteten Tanzvideos von sich und solidarisierten sich mit Marin. Auch der Hashtag #DancewithSanna trendet derzeit. Dort posten v. a. Frauen Fotos, die zeigen, dass Party und berufliche Performance alles andere als ein Widerspruch sind.
- Marin ist nicht die erste Politikerin, die tanzt. Der Guardian hat Dancefloor-Perlen von u. a. Barack Obama, Emmanuel Macron, Dmitry Medvedev und Angela Merkel zusammengestellt. Noch mehr tanzende Politiker:innen gibt es weiter unten in unserem Tweet der Woche.
Über die Tanzkünste des Hohen Repräsentanten für Bosnien und Herzegowina und ehemaligen Bundeslandwirtschaftsminister Christian Schmidt ist wenig bekannt, seit letzter Woche aber über seine Impulskontrolle. Bei einem Interview platzte ihm vor laufenden Kameras der Kragen, wie man es selten erlebt. Was hinter dem Ausraster steckt, hat Marco Orlovic für n-tv recherchiert.
Von einem hätte man sich in der letzten Woche aber eher mehr und nicht weniger Impulsivität gewünscht: Olaf Scholz. Für habituelle Hyperaktivität ist Scholz eh nicht bekannt, diesmal führte sein zögerndes Schweigen aber zu einem internationalen Eklat. Palästinenserpräsident Abbas sprach bei seinem Besuch im Kanzleramt, keine zwei Meter von Scholz entfernt, von “50 Holocausts”, die Israel seit 1947 gegen sein Volk begangen haben. Eine ungeheuerliche Verharmlosung des Holocausts – nachdem dann aber kommentarlos die Pressekonferenz endete. Am nächsten Morgen schob Scholz auf Twitter eine klare Distanzierung auf Deutsch, Englisch und Hebräisch nach. Niemand wirft Scholz ernsthaft eine mangelnde Sensibilisierung in der Sache vor, aber der kommunikative Flurschaden war da: Es bleibt das Bild, dass man im deutschen Bundeskanzleramt den Holocaust relativieren kann und dabei unwidersprochen bleibt.
Dass Abbas zu Äußerungen dieser Dimension fähig ist, darf niemanden überraschen, umso besser vorbereitet hätte das Kanzleramt gewesen sein müssen. Scholz hätte sich über seinen Sprecher Hebestreit hinwegsetzen und das Wort ergreifen müssen. Dass er dazu keine Einladung braucht, bewies er wenige Minuten vorher, als er Abbas für den Begriff “Apartheidstaat” offen kritisierte und auch vor wenigen Monaten in Südafrika, als er Präsident Ramaphosa vor laufenden Kameras zum Ukraine-Krieg korrigierte.
- Kristina Dunz erklärt, warum Hebestreits Entschuldigung nicht darüber hinwegtäuschen kann, dass hier Scholz selbst einen Fehler gemacht hat.
- Ihr Kollege Matthias Koch sieht auch Scholz’ Kommunikation als Problemfall – ob nun zur Gasumlage, den Ukraine-Krieg oder die Cum-ex-Affäre.
- Genau die holte ihn auch am Freitag wieder ein als er in Hamburg vor dem Warburg-Untersuchungsausschuss aussagen musste und sich wieder mal an nichts erinnern konnte. In ihrem Gastbeitrag “Die verhüllte Demokratie” fordern Stephan-Götz Richter und Fabio de Masi, dass parlamentarische Untersuchungsausschüsse in Zukunft live übertragen werden sollen.
Eher unverhüllt ging Scholz’ Woche zum Vergessen, der selbst die New York Times einen Artikel widmete, zu Ende: Als ihn zwei Aktivistinnen beim Tag der offenen Tür der Bundesregierung mit einem Nacktprotest gegen die Energiepolitik überraschten, zahlte sich seine stoische Art dann wieder aus. Der Kanzler ließ sich nichts anmerken.
Mit den besten Grüßen zum Wochenstart
Philipp Sälhoff
- Wegen Angst vor Anschlägen: Delegation um Linkenchefin Wissler sagt Reise in die Ukraine ab
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- Zemfira Suleymanova: Russische Influencerin stirbt durch Landmine im Donbass
- Anschlag: Tochter von berühmtem Kreml-Philosophen getötet
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- Österreich: Besondere Zwischenrufe im österreichischen Nationalrat (Tweet)
- Parteireform: Josef Lentsch startet Political Intrapreneurship Newsletter
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- Desinformation: Troll-Taktiken in der Analyse (Twitter-Thread)
Klett-Cotta
Demokratie als Zumutung: Für eine andere Bürgerlichkeit
Wie viel darf und sollte ein demokratischer Staat von seinen Bürger:innen fordern? Mit dieser aufgrund diverser Krisen hochaktuellen Frage setzt sich der Politikwissenschaftler Felix Heidenreich in seinem lesenswerten Buch auseinander. Er versucht darin klar zu machen, dass Politik in der Demokratie nicht immer nur „liefern“ kann, sondern auch auf die Mitwirkung der Menschen angewiesen ist. Damit diese von Politik-Konsument:innen zu mitgestaltenden citoyens werden, brauche es aber auch die richtige Ansprache durch den Staat. Der Autor verdeutlicht dies an historischen Beispielen, in denen Demokratien ihren Bürger:innen etwas zugemutet haben – und damit erfolgreich waren. Zugleich spielt er bedenkenswerte Ansätze durch, mit denen in Deutschland demokratische Bürgerlichkeit und mehr Einsatz für das Gemeinwesen gefördert werden könnten.
Tagelang wurde nicht nur, aber besonders auf Twitter über die Videos diskutiert, die die im privaten Kreise feiernde und tanzende finnische Ministerpräsidentin Sanna Marin zeigten. Dabei sind tanzende Staatschef:innen keine Seltenheit. @JonOfUs hat die schönsten Aufnahmen von in der Regel aufregungsfreien Tanzeinlagen anderer Staatsoberhäupter zusammengestellt.
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Finnische Botschaft in Berlin
Seit der Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen Deutschland und Finnland 1973 ist die finnische Botschaft Ansprechpartnerin für die rund 15.000 finnischen Staatsbürger:innen in der Bundesrepublik. Weiter vertreten die Diplomat:innen die politischen Positionen Finnlands gegenüber der Bundesregierung und ganz Deutschland. Die finnische Botschaft ist Teil des einzigartigen nordischen Botschaftskomplexes, welchen sich die Botschaften Finnlands, Schwedens, Norwegens, Islands und Dänemarks teilen. Finnische Botschafterin ist seit 2019 Anne Sipiläinen. Vor ihrer Stationierung in Berlin war sie u. a. Unterstaatssekretärin im finnischen Außenministerium sowie 1988 Attachée in Finnlands Botschaft in der DDR.
Redaktion: Philipp Sälhoff, Gregor Bauer, Mareile Ihde, Benjamin Triebe