Staatsstreich zum Geburtstag

Die politnews vom 12. Dezember 2022

Anfeindungen gegen Kommunalpolitiker:innen | Neues Online-Magazin „Progressives Regieren” | Massiver Anstieg wirtschaftsbedingter Proteste | Lobby-Kontakte der EU-Abgeordneten | Gute Werte für deutsche Demokratie u. v. m.

WAHLTREND: Grüne verlieren | BUCH: Das „Wir” der AfD: Kommunikation und kollektive Identität im Rechtspopulismus | TWEET: Klare Zeichen | STAKEHOLDER: Bundeskriminalamt (BKA)

Liebe Leserin, lieber Leser,

radikal-skurrile Bewegungen neigen dazu, belächelt zu werden, bis es zu spät ist. In der vergangenen Woche haben die Sicherheitsbehörden zeitig Ernst gemacht und in einer Razzia 50 Wohnungen, Häuser und Lagerräume durchsucht und 25 Personen festgenommen. Ziel war die Reichsbürger-Szene, insbesondere eine radikalisierte Gruppe um den Frankfurter Immobilienunternehmer Heinrich XIII. Prinz Reuß (Porträt in der FAZ) und die ehemalige AfD-MdB Birgit Malsack-Winkemann. Diese hatte konkrete Pläne gefasst, das bestehende demokratische System der BRD zu stürzen. Dazu hatte sie Waffen und Munition gesammelt, (ehemalige) Bundeswehrsoldaten und Polizeibeamte angeworben und bereits ein Kabinett bestimmt, welches das Land fortan regieren sollte. Auch ein gewaltsames Vordringen in den Bundestag soll geplant gewesen sein.

  • Wer im „Schattenkabinett” der Terrorist:innen vorgesehen war, berichtet Felix Durach in der Frankfurter Rundschau.
  • Eine Übersicht, wer die Köpfe der Gruppe sind, hat Sven Christian Schulz für das RND zusammengestellt.
  • Ulrich Kraetzer und Alexander Nabert haben für die WELT ausführlich die Pläne der Gruppe beschrieben.
  • Der FOCUS berichtet, welche Rolle Russland in den Plänen der Gruppe gespielt hat.
  • Hagen Strauß hat für die Saarbrücker Zeitung recherchiert, wie gut der Bundestag gegen solche Gefahren gewappnet ist.
  • Der Podcast „Erste Bürgerpflicht” von Benjamin Läpple und Christoph Giesa („Operation Heuss”), zeichnet die Verstrickungen des vermeintlich bürgerlichen Milieus mit der Reichsbürgerszene nach.

In die allgemeine Aufregung über die Großrazzia mischte sich schnell große Verwunderung darüber, wie umfassend vor allem diverse Medienhäuser und Journalist:innen über die bevorstehende Aktion informiert gewesen sein mussten, um kurz nach Bekanntwerden des Einsatzes bereits so detailliert berichten zu können. Stefan Niggemeier hat für Übermedien eine Timeline der ersten Berichte zusammengestellt. Kryptische Andeutungen auf Twitter gingen den Hausdurchsuchungen und Festnahmen außerdem voraus. Es ist durchaus üblich, dass Mitglieder der Presse vereinzelt vor größeren Einsätzen informiert werden. Aber in diesem Fall waren es ungewöhnlich viele Personen, worüber auch das Innenministerium alles andere als glücklich gewesen sein soll. Ebenfalls gibt es Hinweise darauf, dass Beschuldigte bereits vorher wussten, was auf sie zukommen würde, wie Jost Müller-Neuhof und Julius Geiler für den Tagesspiegel berichten. Die taz weiß, dass der Gruppe noch mehr Polizist:innen angehörten, als zuvor bekannt gewesen ist. Die Frage, ob diese Beamten dafür verantwortlich sind, dass die bevorstehende Razzia bei Beschuldigten vorher bekannt war, bleibt vorerst aber unbeantwortet.

Schnell wurde in einschlägigen Blasen im Netz aus diesem Vorwissen konstruiert, das Ganze sei ohnehin nur eine PR-Aktion gewesen und die Aufregung völlig überzogen. Bei den fraglichen Personen der terroristischen Vereinigung handele es sich lediglich um ein paar verwirrte Rentner:innen, die überhaupt nicht hätten durchführen können, was sie geplant hatten. Alles keine große Sache.

  • Christian Stöcker kommentiert für den SPIEGEL, wie problematisch verharmlosende Erzählungen sind, die vornehmlich im konservativen bis rechtsextremen (Presse-)Milieu zu vernehmen waren.
  • Die Razzia war ein Erfolg, aber vor allem eine „amüsante PR-Aktion der Behörden”, meint hingegen Jesko zu Dohna in der Berliner Zeitung.
  • Bundesinnenministerin Nancy Faeser ließ am Wochenende wissen, dass die Zahl der sogenannten Reichsbürger im vergangenen Jahr um 2000 auf 23000 Personen gestiegen und 10 Prozent von ihnen gewaltbereit seien.
  • Faeser kündigte außerdem an, das Waffenrecht verschärfen zu wollen. Konstantin Kuhle, Innenpolitiker und stellvertretender Vorsitzender der FDP-Fraktion, ließ am Sonntag via Tweet wissen, warum er das nicht für erforderlich hält.
  • Wie gefährlich die Reichsbürger-Ideologie werden kann, zeigte bereits der Polizistenmord 2016. Kerstin Herrnkind erklärt die Hintergründe im STERN.

Die Verschwörer:innen haben auch eine Feindesliste mit 18 Namen erstellt. Unter den Personen befinden sich prominente Politiker:innen, wie beispielsweise Außenministerin Annalena Baerbock, SPD-Chefin Saskia Esken, SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert, Ex-Kanzlerkandidat Armin Laschet oder der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz. Außerdem sollen drei bekannte Fernsehmoderatoren gelistet sein. Sebastian Erb und Kersten Augustin haben für die taz die Details recherchiert.

Die Gruppe wurde ziemlich genau ein Jahr nach Amtsantritt der ersten Ampel-Regierung auf Bundesebene am 8. Dezember 2021 ausgehoben. Auch ohne diesen Anlass wäre der Jahres- nicht zu einem Feiertag geworden. Nach verheißungsvollem Start war die Regierungsarbeit und -kommunikation in den letzten Monaten eher von Zwist und Rivalitäten geprägt. Dass die Ampel vor allem wegen des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine Projekte nicht hat umsetzen können, die eigentlich geplant waren, ist bekannt. Untätig ist sie aber auch nicht geblieben. Was geschafft wurde und was nicht, darüber gibt die Bundesregierung fortan selbst Auskunft. Sie hat einen Tracker über ihre eigene Arbeit eingerichtet. Der Regierungsmonitor zeigt in jeweils drei Schritten an, wie weit die gelisteten Vorhaben bereits gediehen sind.

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Die Bewertung der Regierungsperformance soll freilich keine Sache der Ampel selbst sein. Welche Noten Politico den wichtigsten Akteur:innen der Ampel ausgestellt hat, gibt es hier zum Nachlesen. Bundeskanzler Olaf Scholz bekommt zwar nur eine mittelmäßige Note (5,5), gewonnen hat er aber auch etwas: Der von ihm etablierte Begriff „Zeitenwende” wurde in der vergangenen Woche zum Wort des Jahres gewählt. Weitere Hintergründe zum Ampel-Geburtstag:

  • Unter der Überschrift „Zweifel und Kritik sind notwendig” haben die Vorsitzenden der Ampel-Parteien auf die eigene Arbeit in einem Gastbeitrag für die FAZ geblickt.
  • Habeck, Baerbock, Lindner – manche Minister:innen stehen ständig im Rampenlicht, andere kaum. Was die weniger Sichtbaren eigentlich machen, hat die Redaktion der Tagesschau aufgeschrieben.
  • Bundeskanzler Olaf Scholz hat ein Zwischenfazit nach einem Jahr Ampel gezogen und will mit ihr in eine zweite Amtszeit, berichtet das ZDF. Welches geschmackvolle Geburtstagsgeschenk er seinen Minister:innen machte, weiß das RND.

Egal, wie gut es für Olaf Scholz laufen wird: Ein Projekt wird er wohl nicht abschließen können. Der neue Regierungsflughafen soll erst 2035 fertig werden, wie eine Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage nun verlauten ließ.

Viel Zeit, sich mit anderen Dingen zu beschäftigen, zum Beispiel mit der letzten Bundeskanzlerin. Denn ein Jahr Ampel bedeutet auch ein Jahr Abschied von Angela Merkel. Der MDR hat der Ex-Kanzlerin eine neue Dokumentation „Im Lauf der Zeit” gewidmet.

 

Mit den besten Grüßen zum Wochenstart

Philipp Sälhoff

Aktuelle politjobs
Politticker
Vertrauen in deutsche Demokratie im globalen Vergleich hoch

Deutschland ist die zweitgesündeste Demokratie weltweit, so der Ipsos Broken-System Index. Demnach sind systemkritische Stimmungen in Deutschland nicht nur vergleichsweise gering (2,26 von 5 negativen Skalenpunkten), sondern auch leicht rückläufig (-0,08). Insbesondere die Vorstellung, dass das Land einen starken Anführer brauche, findet nur bei einer Minderheit Gehör (29 %), während eine Mehrheit der Meinung ist, dass die deutsche Wirtschaft insofern manipuliert ist, dass sie lediglich den Reichen und Mächtigen…

Neues Online-Magazin

Das Progressive Zentrum gibt ein neues Online-Magazin „Progressives Regieren“ heraus. Essays, Analysen und Dokumentationen sollen Antworten auf die Frage debattieren, wie eine erfolgreiche Politik des Fortschritts in einer Zeit multipler Krisen gelingen kann. Dem Magazin ist eine gleichnamige Veranstaltungsreihe beigefügt. Zum Launch blickt der Ampel-nahe Think Tank in Artikel- und Eventform auf das erste Jahr der Regierung zurück.

Lobbyist:innen-Treffen der MdEPs

412 der 705, also 58 %, der Mitglieder des EU-Parlaments trafen sich in der laufenden Wahlperiode mit Lobbyist:innen. Anteilig die meisten Lobby-Treffen hatte die Grünen-Fraktion mit durchschnittlich 111,8 Begegnungen pro Abgeordnetem. Weit abgeschlagen folgen die liberale Fraktion Renew Europe (60,8) und die Sozialdemokrat:innen (50,0). 100 % der Luxemburgischen Abgeordneten trafen Lobbyvertreter:innen und stellen damit die aktivste Ländergruppe, gefolgt von Schweden (95 %), Dänemark und Finnland (je 93 %). Deutsche…

Anfeindungen gegen Kommunalpolitiker:innen

Rund 60 % aller Kommunalpolitiker:innen in den deutschen Großstädten haben bereits Anfeindungen erlebt. Das ist das Ergebnis einer Studie der NRW School of Governance. Demnach zeigten sich die Aggressionen unabhängig von Geschlecht, Migrationshintergrund oder sozialer Herkunft. Auch ein Unterschied zwischen Ost- und Westdeutschland konnte nicht festgestellt werden. 90 % der betroffenen Politiker:innen gaben an, sich dennoch weiter politisch engagieren zu wollen.

Massiver Anstieg wirtschaftsbedingter Proteste

Der Anteil globaler Proteste aus wirtschaftlichen Gründen ist 2022 massiv gestiegen. In diesem Jahr bezogen sich 58 % aller Proteste auf ökonomische Probleme, 8 % explizit auf die Inflation. Während der Anteil inflationsbedingter Demonstrationen 2021 noch bei 11 % lag, waren wirtschaftliche Faktoren im vergangenen Jahr insgesamt lediglich für 16 % verantwortlich. Gleichzeitig zeigt die zugrundeliegende Untersuchung des Think Tanks Carnegie, dass ungewöhnlich wenige Proteste signifikante Effekte hatten (14 %,…

Wahltrend
Wahltrend 12.12.2022

Der pollytix-Wahltrend zur Sonntagsfrage, Vorwochenvergleich in gefärbten Zahlen. Die Angaben berechnen sich aus dem gewichteten Mittel aller Sonntagsfragen der letzten 20 Tage. Den kompletten Wahltrend und alle Einzelumfragen finden Sie hier, mehr zur Methodologie hier.

Buch der Woche

Johannes Hillje

Das »Wir« der AfD: Kommunikation und kollektive Identität im Rechtspopulismus

Es gibt nicht erst seit den aufgeflogenen Umsturzplänen der Reichsbürger-Gruppierung einige Anzeichen dafür, dass es sich bei Teilen der AfD um den parlamentarischen Arm einer politischen Bewegung handelt, die sich gegen die Bundesrepublik und ihre Verfassung richtet. Dazu tragen auch die Kommunikation und Narrative bei, die die Partei verwendet. Wie es der AfD gelingt, unter ihren Anhänger:innen eine von Freund-Feind-Denken geprägte kollektive Identität zu erzeugen, erklärt der Kommunikationsexperte Johannes Hillje in seinem neuesten Buch.

Aufgrund eines Mangels an gesellschaftlicher Verankerung arbeite die Partei besonders in den sozialen Medien intensiv an einem Gemeinschaftsgefühl durch Emotionalisierung und Selbstheroisierung, so Hillje. Ihr Identifikationsangebot beruhe dabei hauptsächlich auf einem kulturellen Kampf um das, was als „normaler“ Lebensstil gelten soll – gegen jeden Veränderungsdruck durch Klimawandel, Globalisierung oder Energiekrise. Dafür würden in der Partei-Kommunikation klare Trennlinien gezogen: Wer „typisch deutsch“ lebt, gehört zur Ingroup der AfD; die Bundesregierung, die politische Elite und zivilgesellschaftliche Akteure werden hingegen zu „Verrätern” an der eigenen Kultur und zum Feind im Inneren erklärt. Zudem inszeniere sich die Partei als Opfer der Elite und Retterin des Landes. Das Buch – zugleich die Dissertation des Autors – bietet noch viel mehr erhellende Einblicke in die Kommunikation der AfD und ist trotz seines wissenschaftlichen Aufbaus äußerst gut lesbar.

 

 

Die Buchempfehlungen finden Sie ab sofort auch unter www.politbooks.de.

 

Benjamin Triebe

Tweet der Woche

@HowardMortman

Klare Zeichen

Was die terroristische Vereinigung rund um Heinrich XIII. Prinz Reuß geplant hatte, ist in Teilen in den USA bereits geschehen, als am 6. Januar 2021 Trump-Anhänger den US-Kongress stürmten. Einsatzkräfte, die an diesem Tag versuchten, Schlimmeres zu verhindern, wurden nun im Kongress geehrt. Was die Preisträger:innen von Trumps Republikanern halten, wurde klar: Ihre Hände wurden nicht geschüttelt, wie das Video von Howard Mortman zeigt.

Mareile Ihde

Stakeholder der Woche
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Bundeskriminalamt (BKA)

Das Bundeskriminalamt (BKA) fungiert als international tätige Zentralstelle der deutschen Polizei und führt in diesem Rahmen Ermittlungen, um Kriminalität zu bekämpfen und „Deutschland zu einem sicheren Ort zu machen“. Weiterhin übernimmt das BKA Aufgaben wie Forschungsprojekte und Analysen, Personenschutz oder Angelegenheiten der internationalen Zusammenarbeit. Präsident des Amtes ist seit 2014 Holger Münch

Gregor Bauer

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Das Redaktionsteam
12. Dezember 2022