Spiegel-Rücktritt und die Fehlerkultur im politischen Berlin

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Editorial: Spiegel-Rücktritt und die Fehlerkultur im politischen Berlin +++ Meldungen: Atlas der Zivilgesellschaft, Work4Germany in 13 Ministerien, Europäisches Netzwerk der Corona-Leugner:innen, Goldene Blogger 2022, Jugend unzufrieden mit Demokratie +++ Wahltrend: Union verliert wieder +++ Buch: Faschismus. Und wie man ihn stoppt +++ Tweet: Die Macht der Bilder+++ Jobs: Referent:in für Public Affairs (bitkom), JoinPolitics Talentförderung, Freelancer:in für eine politisch-strategische Kommunikationsberatung gesucht, u.a. +++ Events: Was Frankreich bewegt – Die französische Präsidentschaftswahl (Friedrich-Naumann-Stiftung) +++ Stakeholder: Brot für die Welt

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Liebe Leserin, lieber Leser,

es gibt diese Szenen im Politikbetrieb, die ins kollektive Gedächtnis eingehen – heute würde man vielleicht sagen, die zu Memes werden. Das ist besonders dann der Fall, wenn die professionelle Hülle bricht, die in der politischen Kommunikation so wichtig ist. Momente wie Wolfgang Schäubles öffentliche Zurechtweisung seines Pressesprechers (“Reden Sie nicht, Herr Offer!”, Video), Christian Lindners Fremdschäm-Witz bei der Verabschiedung von Linda Teuteberg und natürlich Armin Laschets Lacher. Nun könnte es einen Neuzugang in dieser Reihe geben.Als gestern kurzfristig ein Pressestatement von Anne Spiegel für 21 Uhr angekündigt wurde, gingen viele schon von einem Rücktritt der Grünen aus. Allein Wochentag und Uhrzeit sprachen Bände. Die derzeitige Bundesfamilienministerin und ehemalige Umweltministerin von Rheinland-Pfalz schilderte dann, den Tränen nahe, die Umstände, wegen derer sie kurz nach der Flut im Ahrtal in einen vierwöchigen Urlaub aufgebrochen ist und entschuldigte sich für ihr Verhalten. Einen Rücktritt kündigte sie nicht an, obwohl ihr die Grünen-Spitze diesen vorher in einem Votum von 6:0 nahe gelegt haben soll. Das gesamte Statement (Video), das insbesondere durch dessen Ende (Video) vollends zum PR-Desaster geriet, hinterließ den Eindruck einer Bundesministerin am Limit. Zudem berichtet die ZEIT, dass die 41-Jährige der eigenen Landesparteispitze noch am Donnerstag ihren Urlaub verschwiegen hat.

Bis auf einige überhitzte und schnell gelöschte Reaktionen, verhielten sich die meisten Grünen kommunikativ bisher eher defensiv und weisen auf die besondere Belastungssituation hin. Man scheint aus den Fehlern im hektischen Umgang mit der Kritik an Annalena Baerbock im Wahlkampf gelernt zu haben.

Trotz Verständnis für die persönliche Lage ist der Druck auf Spiegel noch gestiegen und führte heute Nachmittag dann auch zum Rücktritt der Ministerin (Meldung des BMFSFJ im Original und Hintergrund im Handelsblatt). Es ist der erste in der regierenden Ampelkoalition.

Spekulationen für ihre Nachfolge gibt es ebenfalls schon. Laut einem ThePioneer-Bericht wurde Toni Hofreiter der erste Nachrücker-Posten versprochen. Auch BMWK-Staatssekretär Michael Kellner ist im Gespräch, ggf. auch im Zuge einer Personalrochade mit Hofreiter. Was jedoch zur Folge hätte, dass drei der fünf Minister:innen-Posten der Grünen von Männern besetzt sein würden.

Weitere Hintergründe:

  • Volker Thoms analysiert im KOM-Magazin das Statement, dessen Wirkung und die Rolle der schnell kritisierten Pressestelle des BMFSFJ.
  • In der FAZ sieht Heike Schmoll die “Selbstbehauptung einer Überforderten” gescheitert.
  • Ein aktuelles Kurzporträt über Anne Spiegel in der Allgäuer Zeitung.
  • Die Süddeutsche Zeitung hat ihre Leser:innen gefragt, ob sie Verständnis für Spiegels Erklärung haben.
  • Warum Anne Spiegels Kommunikation inkonsistent war und sie damit anderen Frauen in der Politik einen Bärendienst erwiesen hat, analysiert meine Kollegin Mareile Ihde im Interview mit der Berliner Zeitung.

Spiegels damalige Amtskollegin hat bereits Konsequenzen gezogen. Zu spät und zu unvollständig hat NRW-Umweltministerin Ursula Heinen-Esser (CDU) ihre Fehler im sogenannten “Mallorca-Gate” eingeräumt. Die ZEIT über die Hintergründe der Affäre und die fragwürdige Kommunikation der Ministerin. Die Causa ging einigen wohl ganz schön an die Nieren, wie eine Flughafen-Szene zwischen NRW-Minister Stephan Holthoff-Pförtner (CDU) und Mahmut Özdemir (SPD) zeigt.

Auch Karl Lauterbach ist Kritik an seiner Amtsführung gewohnt. “Die Aufgabe ist viel härter, als ich mir das vorgestellt hatte”, gab Lauterbach in einem offenen WELT-Interview zu. Kommunikativ und handwerklich sind die ersten Monate als Gesundheitsminister für ihn nicht gut gelaufen. Kristina Hofmann für das ZDF über die Kommunikationspannen des Gesundheitministers. Letzter Höhepunkt: Bei Markus Lanz kassierte er kurzerhand die Entscheidung, dass eine Isolation ab Mai freiwillig sei. Dass er das in der Politsendung noch vor der offiziellen Verlautbarung und bevor es seine Fraktion wusste tat, stieß auf Kritik. Der Fehler lag bei ihm, gab Lauterbach zu. Es sei nicht Lauterbachs Schuld, argumentiert Vera Wolfskämpf für das ARD-Hauptstadtstudio. Warum er wohl bald seinen Job los sein wird, analysiert Stephan-Andreas Casdorff für den Tagesspiegel.

Damit aber nicht genug mit der Woche der Sühne im politischen Berlin. Besonders steht die Russlandpolitik der letzten Jahre und Jahrzehnte im Fokus der Aufarbeitung. Bundespräsident Steinmeier gestand bereits Fehler ein. Ebenso der baden-württembergische Ministerpräsident Kretschmann und FDP-Urgestein Kubicki, der “50 Jahre seiner politischen Agenda in Luft aufgelöst” (€) sieht. Angela Merkel hat hingegen verlauten lassen, sie wolle nicht mehr über das Thema reden. Warum die Kritik an der Altkanzlerin heute scheinheilig ist, erklärt Matthias Koch für das RND. Welche Fehler Merkel machte, beleuchtet hingegen Nikolas Busse für die FAZ.
Konrad Adenauer hat über zehn Jahre übrigens die SPD ausspionieren lassen, wie eine Recherche der Süddeutschen Zeitung (€) aufdeckte (Zusammenfassung bei n-tv). Der erste Kanzler der Bundesrepublik wusste demnach über Vorhaben und Stimmung in der Opposition tagesaktuell Bescheid. Zwei Spitzel übermittelten ihm wohl hunderte Akten. Die Süddeutsche, die den Skandal öffentlich machte, spricht vom “deutschen Watergate”. Die SPD fordert Aufarbeitung, nennt es einen “beispiellosen Vorgang“. Ob es auch hier zu einer Entschuldigung kommen wird, bleibt abzuwarten.

Mit den besten Grüßen zum Wochenstart

Philipp Sälhoff

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Oberstudienrat Bob Blume wurde als bester Blogger des Jahres ausgezeichnet. Der auch als “Netzlehrer” bekannte Blume erhielt den Goldenen Blogger Award (Liste alle Preisträger:innen) für seine Einblicke in das Lehrerleben und den Kampf gegen Desinformation. Als Newcomerin des Jahres wurde Ira Peter, für ihre Rolle als Stadtschreiberin in Odessa geehrt. Bundesgesundheitsminister Lauterbach siegte in der Kategorie Twitter, während sich die schleswig-holsteinische Vize-Landtagspräsidentin Aminata Touré bei politischer Digitalkommunikation durchsetzen konnte.

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Der deutschen Bundesregierung wird sowohl im In- als auch im Ausland der Vorwurf gemacht, sie täte zu wenig in Reaktion  auf den russischen Angriffskrieg in der Ukraine. Den zahlreichen Kritikern wurde jetzt  unter anderem dadurch neues Futter gegeben, dass der britische Premierminister Boris Johnson nicht nur Kiew besuchte, sondern auch mit Selenskyj ohne Schutzausrüstung durch die City der ukrainischen Hauptstadt lief. Olaf Scholz indes war am Wochenende in Lübeck.

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11. April 2022