Die schleichende Krise der Kommunalpolitik

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Editorial: Die schleichende Krise der Kommunalpolitik +++ Meldungen: Eliten ohne Ostdeutsche, Extremismus-Gefahr steigt, Empfehlungen für Parlamente, Verwaltungspreis 2022, Public-Affairs-Gehaltsstudie, u.v.m.  +++ Wahltrend: Grüne erstmals seit Bundestagswahl vor SPD +++ Buch: Zusammen wachsen. Eine neue progressive Bewegung entsteht +++ Tweet: Mehr als tausend Worte +++ Jobs: Trainee Public Affairs (FleishmanHillard), Pressesprecher:in (CDU-Fraktion Berlin), Head of Operations & Finance (Schöpflin Stiftung), Consultant Kommunikation und Beteiligung bei Infrastrukturprojekten (ifok), u.v.m. +++ Events: Die Übergangenen: Studiendiskussion (Das Progressive Zentrum) +++ Stakeholder: Deutscher Städtetag

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Liebe Leserin, lieber Leser,

die Angst ging um bei der CDU vor der gestrigen Kommunalwahl in Sachsen. Seit 2008 waren alle zehn Landkreise fest in ihrer Hand, doch nun drohte die AfD zumindest einige Landratsposten zu übernehmen. Es wären die ersten im ganzen Bundesgebiet gewesen. Am Ende hatten die Konservativen aber fast überall die Nase vorn: In drei Landkreisen mit absoluter Mehrheit und in sechs weiteren mit guten Chancen in der Stichwahl (gewählt wurde nur in neun). Entsprechend groß war die Erleichterung – nicht nur bei der CDU.

Das lag auch an den rechtsextremistischen “Freien Sachsen“, die der AfD Stimmen streitig machten. Der MDR hat die Gruppierung in einer Video-Recherche näher beleuchtet. Auch in Dresden verfing der populistische Protestwahlkampf der AfD nicht. Der amtierende Oberbürgermeister Dirk Hilbert (FDP) erhielt 32,5 % und muss nun in einen zweiten Wahlgang. Wie die Sächsische berichtet, haben SPD und Linke bereits angekündigt, Eva Jähnigen von den Grünen zu unterstützen, die im ersten Wahlgang 18,9 % holte und nun realistische Siegchancen hat. Eine interaktive Landkreiskarte des gesamten Bundeslands bietet der Landeswahlleiter.

Auch in Thüringen wurde am Sonntag gewählt. In 323 Gemeinden ging es um das Bürgermeister:innen-Amt und auch hier hatte die CDU das glücklichere Ende für sich. Doch die Bürgermeister:innen-Wahl brachte einige interessante Randgeschichten hervor:

  • Sina Römhild (24) konnte die Wahl in Oechsen (Wartburgkreis) als jüngste Bewerber:in mit über 84 % aller Stimmen für sich entscheiden.
  • in Lenterode (Landkreis Eichsfeld) erzielte der 82-jährige Albert Herold mit 82 Stimmen ein Ergebnis von 82 %.
  • Viel Aufmerksamkeit gab es im Vorfeld der Wahl für die Kandidatur von dem Rechtsextremisten Tommy Frenck im südthüringischen Kloster Veßra. Er unterlag klar gegen den parteilosen Amtsinhaber Wolfgang Möller. Das Duell sorgte für eine Rekordwahlbeteiligung von 83 %.
  • Durch die – in der Kommunalpolitik generell zahlreichen – parteilosen Kandidat:innen erreichten die “Sonstigen” in Thüringen zusammengerechnet eine komfortable Mehrheit von 76,5 %.

Die Wahlbeteiligung lag in Sachsen bei unter 50 %, in Thüringen bei 50,7 %. Doch nicht nur auf Seiten des aktiven Wahlrechts geben die Wahlen zu denken. So gab es für die Bürgermeisterämter in Thüringen nur 406 Bewerber:innen, was bedeutet, dass es in den meisten Fällen gar keine Wahl im eigentlichen Sinne gab: Es stand nur ein:e Bewerber:in auf dem Stimmzettel. In 22 Fällen hat es nicht einmal dazu gereicht. Dort gab es überhaupt keine offiziellen Bewerber:innen, sodass die Bürger:innen selbst Vorschläge auf dem Wahlzettel notieren konnten.

Die deutsche Kommunalpolitik hat ein Nachwuchs- und Rekrutierungsproblem. Und es wird größer. In vielen Gemeinden werden Kandidat:innen für Bürgermeister:innen-Ämter und die kommunale Verwaltung händeringend gesucht. Die Gründe dafür sind unterschiedlich:

  • Die Bevölkerung schrumpft in vielen strukturschwachen Gebieten durch Landflucht. Ein großes Problem für die Daseinsvorsorge auf dem Land – aber eben auch für die Besetzung von politischen Ämtern.
  • Kommunalpolitiker:innen werden attackiert, beleidigt und beschimpft. Angriffe auf die Privathäuser und Firmen, (anonyme) Drohschreiben und Beleidigung von Familienangehörigen sind an der Tagesordnung. Eine Studie aus Brandenburg zeigt, dass Amtsträger:innen dort rechnerisch einmal pro Tag bedroht werden. Insbesondere im Zuge der Corona-Pandemie gab es einen weiteren Anstieg. Junge Bürgermeister:innen verfassten bereits einen offenen Brief.
  • Die Bezahlung ist schlecht. Viele Bürgermeister:innen arbeiten ehrenamtlich. So sind von den 323 Posten, die in Thüringen vergeben werden, lediglich sieben bezahlt, 318 müssen sich ohne hinreichende Entlohnung zufrieden geben. Ein Faktor, der die Rekrutierung ebenfalls erschwert.
  • Gleichzeitig steigt das Aufgabenspektrum, viele Amtsträger:innen klagen über Überlastung. Parallel nehmen viele Gemeindevertreter:innen weniger Handlungsspielraum wahr, wie eine Studie aus Baden-Württemberg zeigt.
  • Frauen bilden nicht nur in der Wirtschaft das größte Rekrutierungspotenzial, sondern auch in der Lokalpolitik. Eine Studie der Heinrich-Böll-Stiftung konnte zeigen, dass in kommunalen Vertretungskörperschaften nur 34 % weiblich sind, in hauptamtlichen Führungspositionen lediglich 29 %. Hier bleibt großes Potenzial ungenutzt.

Dabei ist die Kommunalpolitik für viele die erste Kontaktlinie der demokratischen Teilhabe. In Kommunen kommen Bürger:innen mit Politiker:innen auf Augenhöhe ins Gespräch über ihre konkrete Lebensrealität – Demokratie wird greifbar. Kommunen sind aber auch “Rückholorte” für jene, die sich (zurecht oder nicht) vom demokratischen System nicht gesehen oder verstanden fühlen. Kommunalpolitiker:innen können Vertrauen durch kontinuierliches Dasein, Zuhören und Arbeiten zurückgewinnen. Es bedarf einer Aufwertung der Ämter, mehr Respekt und auch einer umfassenden Vorbereitung auf das Amt. Qualifizierte, engagierte, motivierte und empathische Menschen werden auf kommunaler Ebene dringend gebraucht.

Dass es anders gehen kann, zeigen einige ermutigende Beispiele aus der Kommunalpolitik wie die Kandidatur von JoinPolitics-Talent Eliza Diekmann aus Coesfeld (Westfalenspiegel), Marian Schreier aus Tengen (SWR) oder Laura Isabelle Marisken aus Heringsdorf (Ostsee-Zeitung).

Mit den besten Grüßen zum Wochenstart
Philipp Sälhoff

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Demokratie & Gesellschaft: Ostdeutsche fehlen in Top-Jobs

Auch drei Jahrzehnte nach der Einheit sind lediglich 3,5 % der wichtigsten deutschen Führungspositionen von Ostdeutschen besetzt. Eine Studie von Hoferichter & Jacobs sowie der Universität Leipzig befand, dass selbst der Anteil an Elitenpositionen in Politik, Wirtschaft, Justiz und Wissenschaft in Ostdeutschland nur zu 26 % von Ostdeutschen bezogen werden, 2016 waren es noch 23 %. Das schlägt sich auch politisch nieder: In den ostdeutschen Länderkabinetten ist der Anteil mit 60 % zwar vergleichsweise hoch, allerdings lag dieser in den vorangehenden Erhebungen 1991, 2004 und 2016 jeweils noch bei mindestens 70%.

Demokratie und Gesellschaft: Extremismus nimmt weiter zu

Das rechtsextreme Personenpotenzial ist 2021 um rund 1,8 % auf 33.900 Menschen angestiegen, so der neue Verfassungsschutzbericht. Rund 40 % von ihnen hält der Nachrichtendienst für gewaltorientiert. Insbesondere die Gruppierung der sogenannten Reichsbürger wuchs von rund 20.000 auf 21.000 Anhänger:innen. Auch der Linksextremismus verzeichnet laut Verfassungsschutz Zuwächse mit nun 34.700 Menschen, ein Plus von 1,2 %. Von ihnen sollen 30 % gewaltbereit oder -billigend sein.

Parlamente: Fünf Empfehlungen der Inter-Parliamentary Union

Die Inter-Parliamentary Union hat fünf Empfehlungen zur Öffentlichkeitsbeteiligung durch demokratische Parlamente erarbeitet. Dazu zählen unter anderem eine strategische Beteiligungskultur auf allen Ebenen des Parlaments, Beachtung der Inklusion gesellschaftlicher Gruppen und Initiativen, welche die Tagesordnungen der Parlamente beeinflussen können.

Behörden: Preisausschreiben für gute Verwaltung 2022

Im Juli startet die Einreichungsphase des diesjährigen Verwaltungspreises, durch welchen “bürgerzentrierte und innovative Behördenarbeit” ausgezeichnet wird. Bewerben können sich Behörden, Abteilungen oder Mitarbeiter:innen mit einem abgeschlossenen Projekt zur Verbesserung ihrer Arbeit. Neben Innovation und Bürgerzentriertheit fließen auch die Kriterien Nachhaltigkeit, intelligente digitale Lösung und Mut ein. Die sechsköpfige Jury besteht aus Vertreter:innen aus Behörden und der Zivilgesellschaft, darunter Johanna Ballasteros (ProjectTogether) und Ralf Kleindiek (Staatssekretär für Verwaltungsmodernisierung in Berlin). Der Preis wird am 14. Oktober 2022 in Freiburg verliehen.

Lobbyismus und Interessenvertretung: Einkommen der Branche im Wandel

Das Gehaltsniveau in der Public-Affairs-Branche hat sich im Vergleich zum Vorjahr äußerst unterschiedlich entwickelt, so eine Befragung der de’ge‘pol. Während die durchschnittlichen Bruttogehälter in den Verbänden (5.500 €, +25 %) und Beratungen (6.708 €, +12 %) signifikant anstiegen, verzeichnen Agenturen einen deutlichen Abstieg von 7.588 € in 2021 auf 6.600 € (- 13 %) in diesem Jahr. Noch deutlicher fällt der Unterschied bei Unternehmen aus. Ein Abfall von 7.468 € (2021) auf 6.000 € bedeutet hier ein Minus um 20 %. Erstmals wurde auch abgefragt, wie oft Angestellte der Branche ihre Arbeitsstelle wechseln: Eine relative Mehrheit von 41 % gab drei oder vier Jobwechsel im Laufe ihrer Erwerbsbiographie an.

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Der pollytix-Wahltrend zur Sonntagsfrage, Vorwochenvergleich in gefärbten Zahlen. Die Angaben berechnen sich aus dem gerichteten Mittel aller Sonntagsfragen der letzten 20 Tage. Den kompletten Wahltrend und alle Einzelumfragen finden Sie hier, mehr zur Methodologie hier.

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In den vergangenen Jahren sind viele neue Bewegungen für Klimaschutz, soziale Gerechtigkeit, Selbstbestimmung und Vielfalt entstanden. Doch wie kann es gelingen, aus den unterschiedlichen Akteuren dieser Bewegungen Allianzen für progressive Ziele zu formen? Dieser Frage widmet sich Andreas Audretsch, MdB der Grünen, in seinem Buch “Zusammen wachsen”. Er schildert darin Beispiele für ungewöhnliche Bündnisse, zieht Lehren aus früheren sozialen Bewegungen, thematisiert Gefahren der Spaltung und lässt Stimmen aktueller Akteure zu Wort kommen. Das Bewusstsein für gemeinsame Anliegen, Erfahrungen und Werte sei dabei besonders wichtig für neue progressive Allianzen.

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Der Volksmund sagt “Ein Bild sagt mehr als tausend Worte”. Und so hat roter pander einfach mal ein Foto getwittert, das die Rezeption des fehlschlagenden Entlastungsinstruments “Tankrabatt” in der Bevölkerung ohne viele Worte zusammenfasst.

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Politik-Expert:innen aufgepasst! FleishmanHillard sucht ab sofort eine:n Trainee Public Affairs in Berlin. Deine Aufgaben umfassen die Mitarbeit an der strategischen Beratung sowie der stetige Ausbau des Netzwerkes. Wenn Du schon immer mal in den Alltag einer Beratungsagentur reinschnuppern wolltest, dann bewirb Dich jetzt!

Fellowship der Woche

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Mo, 20.06.2022 | 18:00-20:00 Uhr
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Das Progressive Zentrum | Hiroshimastr. 17, 10785 Berlin

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Der Deutsche Städtetag ist ein Zusammenschluss von kreisfreien und kreisangehörigen Städten in Deutschland. Er nimmt als kommunaler Spitzenverband die Interessen der Städte gegenüber Institutionen wie der Bundesregierung, dem Bundestag oder der Europäischen Union wahr. Weiter berät er seine Mitgliedsstädte, informiert sie über bedeutsame Vorgänge und Entwicklungen und fördert den Erfahrungsaustausch zwischen ihnen. Die Hauptgeschäftsstelle verteilt sich auf die Standorte Köln und Berlin, außerdem verfügt der Deutsche Städtetag über ein Europabüro in Brüssel. Gegründet wurde der Verband am 27. November 1905 auf einer ersten Sitzung in Berlin.

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13. Juni 2022