politnews – Das Beben von Erfurt

[ Mit Meldungen zur steigenden Anzahl Kleiner Anfragen, Konfliktbereitschaft der Gewerkschaften, neuen Emojis und den Civic Tech Plattformen Diskutier Mit Mir und PluraPolit ]

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Das Bild des “politischen Erdbebens” wird zuweilen überstrapaziert. Was sich aber am Mittwoch um 13:27 Ortszeit in Erfurt ereignete, gehört zweifellos zu den tiefgreifendsten Erschütterungen der politischen Landschaft in letzter Zeit – mit Schockwellen, die immer noch zu spüren sind. Gerade heute Morgen in Form der Rücktrittsankündigung von CDU-Parteichefin Annegret Kramp-Karrenbauer.

Das Geschehen in Kurzform: Thomas Kemmerich (FDP) stellte sich nach zwei erfolglosen Versuchen des bisherigen Amtsinhabers Bodo Ramelow (Linke) im 3. Wahlgang zur Wahl als Ministerpräsident des Freistaats. Er wurde daraufhin von CDU, FDP und AfD mit einfacher Mehrheit gewählt – und nahm die Wahl mit dem Wissen um die Stimmenherkunft an. Der AfD-Kandidat, der im ersten Wahlgang drei Stimmen mehr bekommen hatte, als die AfD Abgeordnete hat, ging mit null Stimmen leer aus. Seine eigene Fraktion votierte überraschend, aber nicht unvorhersehbar, für den Liberalen. Der Coup des thüringischen AfD-Chefs Björn Höcke war perfekt. DIE ZEIT mit einer minutiösen Rekonstruktion der Wahl und der letzten Tage im Erfurter Landtag.

Kemmerich, Chef der kleinsten Landtagsfraktion, die in der Wahl im Oktober nur mit 73 Stimmen über die 5 %-Hürde kam, wurde damit zum ersten deutschen Ministerpräsidenten, der mit den Stimmen der rechtsnationalen AfD ins Amt gewählt worden ist. Ein Tabubruch, der seinesgleichen sucht und dessen Echo schnell und überdeutlich kam: In ganz Deutschland versammelten sich spontan Tausende Menschen vor FDP-Parteizentralen, um gegen die Entscheidung zu protestieren. Parteiübergreifend verurteilten die Spitzen von CSU bis Linkspartei die Wahl. Von “Dammbruch”, “Steigbügelhaltern”, “gefallenen Brandmauern” und “Schande” war die Rede. Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel meldete sich aus Südafrika zu Wort und sprach von einem unverzeihlichen Fehler. Innenpolitische Angelegenheiten thematisiert die Kanzlerin bei Auslandsbesuchen nur in Ausnahmefällen.

Das Manöver der AfD wurde in Berlin und Erfurt im Vorfeld diskutiert. Neben der Bundes-CDU warnte auch Ex-CDU-Ministerpräsident Althaus die ParteifreundInnen noch am Sonntag in einer Telefonschalte vor dem Szenario. Auch andere Tatsachen lassen den Eklat prognostizierbar erscheinen:

  • Björn Höcke schlug Kemmerich und CDU-Fraktionschef Mike Mohring schon im November vor, eine Minderheitsregierung zu tolerieren, um Rot-Rot-Grün zu verhindern. Sein Schreiben als Original-PDF.
  • Karl-Eckard Hahn, ein Chefstratege der thüringischen CDU, veröffentlichte noch vor wenigen Tagen ein Essay, warum eine Wahl mit den Stimmen der AfD eine Möglichkeit wäre. Der Ostbeauftragte Christian Hirte teilte diesen anerkennend auf Twitter.
  • Thomas Kemmerich stimmte sich noch kurz vor dem dritten Wahlgang mit der CDU-Fraktion hinter verschlossenen Türen ab. Zu einem Zeitpunkt, als in den Fluren des Landtags schon offen über die mögliche AfD-Volte gesprochen wurde.

Die personellen Konsequenzen bislang:

  • Mike Mohring, der schon länger unter Druck stand und nun das Vertrauen der CDU-Fraktion vollends verlor. Er hätte die Warnungen aus dem Konrad-Adenauer-Haus nicht an die Fraktion weitergegeben, so der Vorwurf.
  • Christian Hirte, Ostbeauftragter und thüringischer CDU-Vize, wurde von Merkel kurz nach ihrer Rückkehr vor die Tür gesetzt.
  • Thomas Kemmerich, der ebenfalls kurz nach dem Koalitionsausschuss am Samstag nach Druck aus Berlin seinen Rücktritt erklärte, aber zunächst geschäftsführend im Amt bleibt.
  • Annegret Kramp-Karrenbauer kündigte heute früh an, auf die Kanzlerkandidatur zu verzichten und ihr Amt als CDU-Parteichefin abgeben zu wollen, sobald ein Kanzlerkandidat feststeht.

Christian Lindner konnte sich vorerst im Amt halten: Der FDP-Vorstand stimmte bei einer Vertrauensfrage mit 33 zu 1 (bei einer Enthaltung) für seinen Verbleib als Parteichef. Was nicht darüber hinwegtäuschen kann, dass die FDP sich katastrophal verspekuliert hat und nicht nur ihren WahlkämpferInnen auf ohnehin schon aus liberaler Sicht hartem hamburgischen Pflaster (Wahltermin am 23. Februar) einen Bärendienst erwiesen, sondern die ganze Partei in die Nähe der Rechtspopulisten gerückt hat. Am Wochenende sahen sich liberale PolitikerInnen aber auch Drohungen, Hetze und Gewalt ausgesetzt. Solidarisierungen aus anderen Parteien folgten stehenden Fußes.

Das Konrad-Adenauer-Haus warnte zwar vor dem Szenario, konnte sich aber beim thüringischen Landesverband kein Gehör verschaffen. Der Unvereinbarkeitsbeschluss, der die Zusammenarbeit mit Linkspartei und AfD ausschließt, stellt ihre ostdeutschen Landesverbände und die Partei selbst immer öfter vor Zerreißproben. Nicht wenige CDU-Politikerinnen fordern ein Ende dieser Policy, darunter z. B. Kieler Ministerpräsident Daniel Günther. Kramp-Karrenbauer nannte als Grund für ihren Rücktritt das ungeklärte Verhältnis der Partei zu AfD und Linken.

Neuwahlen scheinen nun unausweichlich, bis dahin steht aber die Frage im Raum, ob Ramelow oder ein anderer Überbrückungskandidat eine Übergangsregierung bildet. Auch hier sind parlamentarische Konventionen entscheidend: Wählt die CDU einen linken Ministerpräsidenten (was sie derzeit ausschließt) oder enthält sie sich, um kurzfristig Stabilität zu schaffen? AfD-Chef Alexander Gauland hat angedroht, Ramelow mitzuwählen, um ihm die Annahme der Wahl unmöglich zu machen. Das hat Fraktionsvorsitzende Alice Weidel aber bereits revidiert. Was die AfD am Ende machen wird, wissen wohl nur die thüringischen Abgeordneten selbst. Wenn überhaupt.

Ein Tag, der auch viele Bilder schuf: Der Blumenstrauß von Linken-Landeschefin Susanne Hennig-Wellsow vor Kemmerichs Füßen; die Gratulation von Höcke, den selbst andere Liberale als verstörendes Pendant zu Hitlers und Hindenburgs Händedruck am “Tag von Potsdam” sahen und die Protestierenden vor den FDP-Zentralen.

Bezeichnend für diesen Tag auch ein rechter YouTuber, der sich für Kemmerich ausgab und Hennig-Wellsow noch in der Wahlnacht per Fake-Anruf das Innenministerium anbot. Die Linken-Politikerin und viele JournalistInnen nahmen das ernst. Hennig-Wellsow entschuldigte sich bereits, weil sie an diesem Tag “nichts mehr ausschließen konnte”. Nicht zuletzt auch eine beängstigende historische Parallele: Das erste Landesparlament, in das 1930 die NSDAP einzog, stand in Erfurt.

Gerade heute mit besten Grüßen zum Wochenstart
Philipp Sälhoff


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  • AfD stellt die meisten Kleinen Anfragen – Unter den Bundestagsfraktionen ist die Beliebtheit Kleiner Anfragen an die Bundesregierung deutlich gestiegen: Schon jetzt übersteigt die Anzahl der aktuellen Legislaturperiode die der vergangenen um 60 %. Die meisten gehen auf das Konto der AfD, sie stellt knapp vor der FDP die meisten Anfragen. Die durchschnittliche Bearbeitungszeit für AfD-Anfragen ist jedoch relativ niedrig – sie bekommen ihre Antworten mit 19 Tagen im Durchschnitt fast eine Woche früher als die Fraktion der Linken, die mit 24,7 Tage am längsten warten. ➡️ Bernstein Group (Beitrag)
  • Intensivere Tarifverhandlungen in 2019 – Die Tarifverhandlungen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern waren 2019 konfrontativer als in den Jahren zuvor. Auf der Punkteskala, mit der das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) die Konfliktintensität misst, ergeben die Verhandlungen des vergangenen Jahres einen Wert von 10,8 – der Durchschnitt der letzten 15 Jahre beträgt 9,5. Die stärksten Auseinandersetzungen fanden dem Bericht zufolge in der Druckindustrie, im Bankgewerbe und in der Gebäudereinigung statt, zum äußersten Mittel in Form von unbefristeten Streiks griff jedoch nur die Flugbegleitergewerkschaft UFO. ➡️ WELT (Artikel) | IW Köln (Studie)
  • 117 neue Emojis in den Startlöchern – Das Unicode-Konsortium, eine gemeinnützige Organisation, die den Unicode-Standard herausgibt und der Softwareunternehmen wie Apple und Microsoft angehören, hat für 2020 neue Emojis angekündigt. Die Erweiterung enthält auch gesellschaftspolitisch relevante Komponenten: So wird es Transgender-Symbol und -Flagge geben, Mütter und Väter mit Kind auf dem Arm sowie Frauen im Anzug. Mangelnde Diversität in der Emoji-Auswahl wurde im Silicon Valley lang diskutiert, seit 2016 aber nach und nach abgebaut. ➡️ SPIEGEL ONLINE (Artikel)
  • Diskutier Mit Mir startet Tool zur Hamburg-Wahl – Zur Hamburger Bürgerschaftswahl am 23. Februar können Hamburger WählerInnen und Interessierte sich über die Plattform Diskutier Mit Mir austauschen. Seit 2017 wird hier die Möglichkeit geboten, in anonymen 1:1 Chats mit politisch Andersdenkenden kontroverse Thesen zu diskutieren und die jeweiligen Standpunkte nachzuvollziehen. Im Falle Hamburgs sind das zum Beispiel Statements zu Mietpreisbremse, Schulsystem oder Mobilität. Das Projekt wird vom Bundesprogramm Demokratie leben! unterstützt. ➡️ Diskutier Mit Mir (Tool)
  • Politische Bildung über Sprachnotizen – Ebenfalls frisch gelauncht wurde PluraPolit. Hier findet man zu unterschiedlichen Fragen jeweils neun Antworten von RepräsentantInnen diverser Parteien, Bewegungen und Institutionen – jedoch nicht als Text, sondern in Form kurzer Audiobeiträge. Unter jedem Statement können NutzerInnen diskutieren und ihre eigenen Sprachnotizen posten. Das Angebot richtet sich vor allen an ein junges Publikum, das Projekt wird so zum Beispiel an einigen Hamburger Schulen eingesetzt. ➡️ PluraPolit (Tool)


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10. Februar 2020