politnews – Sprechen über das Unvorstellbare

[ Mit Meldungen zu: Wikimedia startet Förderprogramm für freies Wissen, Europäisches Parlament wird zur Corona-Notunterkunft, Bundesregierung schafft Voraussetzungen für reine Briefwahl, Freedom House stuft Ungarn nicht mehr als Demokratie ein und Abgeordnete verstärken digitalen Kommunikation ]

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Vor 75 Jahren, in der ersten Nachtstunden des 7. Mai 1945, erklärte das Deutsche Reich seine bedingungslose Kapitulation, die am Folgetag in Kraft trat. Damit endete ein Krieg, der mehr als 60 Millionen Menschen das Leben kostete und mit dem Holocaust ein beispielloses Menschheitsverbrechen hervorbrachte. Der damalige US-General Dwight Eisenhower, Oberbefehlshaber der alliierten Truppen in Europa und späterer US-Präsident, telegrafierte das Ende des Zweiten Weltkriegs in gerade mal 15 Worten an das Oberkommando der alliierten Truppen. Winston Churchill nahm sich in seiner Radioansprache etwas mehr Zeit.

Heute fällt das Sprechen über das Unbeschreibliche immer noch schwer. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier kam in seiner vielbeachteten Rede (Manuskript und Video) über den deutschen Patriotismus mit Brüchen zum Schluss, dass man Deutschland daher auch nur mit gebrochenem Herzen lieben könne.

Nach coronabedingter Kommunikationsflaute witterte die AfD die Chance für neue Provokationen: Der 8. Mai sei kein “Tag der Befreiung”, so Fraktionsvorsitzender Alexander Gauland, vielmehr bedeute der Tag einen “Verlust deutscher Gestaltungsmöglichkeiten”. Das sehen 87 % der Deutschen jedoch anders, wie die MEMO-Studie zur Erinnerungskulturin Deutschland herausfand. So viele der repräsentativ Befragten halten “Befreiung” für den passendsten Begriff, noch vor “Neuanfang” (81,2 %), “Kapitulation” (77,2 %) und “Niederlage” (70,3 %).

Wie haben die im Bundestag vertretenen Parteien diesen Tag kommuniziert? Ein Twitter-Thread zeigt die Reaktionen und Rhetorik der Parteien im Vergleich. Schaut man sich die Wahrnehmung bei den jeweiligen Wählerschaften an, wird das Bild noch klarer: Bis auf die AnhängerInnen einer Partei ist die Interpretation des Kriegsendes bei allen WählerInnen eindeutig.

Aber auch abseits des Gedenktages gab es in der letzten Woche bemerkenswerte Notizen des politischen Betriebs:

  • Paukenschlag im Bundestag: Johannes Kahrs (SPD), verbriefter Meister der politischen Strippenzieherei, hört auf. Nachdem seine Parteifreundin Eva Högl zur Wehrbeauftragten gewählt wurde, legte der in Hamburg Direktgewählte alle Ämter nieder. Seinen Twitter-Account (“Tja”, “Moin”, “So ist die Lage”, “traumschön” etc.) löschte er gleich mit. Mit Kahrs, der Zeit seines politischen Wirkens umstritten war – man erinnere sich an seine Drohanrufe im Juso-Vorstand oder die legendäre “House of Kahrs”-Reportage – verliert die SPD einen ihrer profiliertesten Haushaltspolitiker und Verhandler. Susanne Gaschke, ehemalige Kieler Oberbürgermeisterin und Ehefrau des bisherigen Wehrbeauftragten Hans-Peter Bartels, der das Amt gern weitergeführt hätte, verabschiedete sich darahufhin in Kommentar in der WELT lautstark aus der Partei. Kahrs Nachfolger als haushaltspolitischer Sprecher wird übrigens der 33-jährige Niedersachse Dennis Rohde, sein Bundestagsmandat für die SPD übernimmt die Hamburgerin Dorothee Martin (42).
  • Für Boris Palmer (Grüne) war es vielleicht der eine Spruch zu viel. Ende April sagte Palmer im Frühstücksfernsehen: “Wir retten Menschen, die eh in einem halben Jahr tot wären.” Wegen dieser Aussage strebt die baden-württembergische Parteiführung nun ein Parteiausschlussverfahren an. Dass Palmer selbst geht, ist nicht zu erwarten. Ein Aufnahmeangebot der Südwest-FDP lehnte der langjährige Tübinger Oberbürgermeister bereits ab. Aus “ökologischer Überzeugung” wolle er grünes Parteimitglied bleiben.
  • Der thüringische Kurzzeit-Ministerpräsident Thomas Kemmerich (FDP) sorgt weiter für Aufregung. Zusammen mit einem bunten Strauß an AfD-AnhängerInnen und VerschwörungsideologInnen demonstrierte er in Gera gegen die Corona-Auflagen. “Für Verhältnismäßigkeit und einen #Corona-Exit mit Maß und Mitte”, wie er selbst sagte, bevor er am Sonntag in einer Videokonferenz zurückruderte. Christian Lindner, der ihn im Desaster von Erfurt noch lange gestützt hatte, distanzierte sich derweil von seinem ehemaligen Parteifreund. Auch in der Causa Kemmerich wurden nun Forderungen zum Parteiaustritt laut.
  • Um die Europapartei Volt ist es in letzter Zeit ruhig geworden. Jetzt wurde der Volt-Politiker Felix Sproll in den Münchener Stadtrat gewählt. Damit übernimmt erstmals ein Mitglied der drei Jahre jungen Partei politische Verantwortung auf kommunaler Ebene. Bei den diesjährigen Kommunalwahlen am 15. März stimmten 1,8 Prozent der Münchener WählerInnen für Volt, das ergab einen Sitz für Sproll. Angeschlossen hat sich der Finanzberater der SPD-Fraktion, die in München mit den Grünen koalieren.
  • Die frisch gegründete Widerstand2020-Partei gegen die Corona-Maßnahmen steckt bereits in den ersten Personalquerelen. Eine Gründerin verließ die sogenannte “Mitmach-Partei” bereits wieder. Victoria Hamm, nun Ex-Vorsitzende und Schatzmeisterin, habe sich nicht mehr mit Entscheidungen identifizieren können, wie T-Online berichtet.

Vermissen Sie schon etwas? Aktuelle Zahlen zur Coronakrise begleiten uns natürlich auch in dieser Woche, auch wenn die meisten Länder den vorläufigen Höhepunkt der Infektionen bereits überschritten haben und Maßnahmen zur Eindämmung vorsichtig lockern. Selbst das Robert-Koch-Institut hat seine täglichen Pressebriefings beendet. Künftig werde man anlassbezogen informieren. Einen graphischen Überblick über die verschiedenen Maßnahmen der Bundesländer hat Zeit Online erstellt.

Für Unruhe sorgt ein Papier aus dem Innenministerium: Ohne Auftrag hat ein Mitarbeiter des Referats “Schutz Kritischer Infrastrukturen” eine Analyse erstellt, die der Bundesregierung einen “Fehlalarm” im Hinblick auf den Erreger attestiert. Der Referent, der das Papier an einen Verteiler innerhalb und außerhalb des Hauses verschickte, wurde mittlerweile vom Dienst entbunden. Das Ministerium nahm zum Vorgang in einer Pressemitteilung Stellung.

Wie schnell das Gefühl der Krise zurück sein kann, zeigt der Fall eines jungen Südkoreaners, der in nur einer Party-Nacht die nationale Seuchenkontrolle wieder in den Alarmzustand versetzte, weil er Dutzende beim Bar-Hopping angesteckt hat.

Das Coronavirus wird uns also noch eine Weile begleiten. Nehmen wir es weiterhin ernst, aber lassen wir uns den Blick auf die zentralen politischen Fragen nicht verstellen, denn davon gibt es – auch ohne die Folgeschäden der Pandemie ­– genügend.

Mit besten Grüßen zum Wochenstart
Philipp Sälhoff

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  • [ Wikimedia-Accelerator und Projektförderung für “freies Wissen” ]
    Wikimedia Deutschland e.V. startet ein Förderprogramm für Projekte, die Ideen rund um “freies Wissen” entwickeln. Das Programm “UNLOCK” fördert Start-ups, die sich mit der technischen Vernetzung von Wissen beschäftigen, Diskussionskultur im Netz gestalten wollen oder offline fairen Wissensaustausch organisieren. Fünf ausgewählte Start-ups werden ab August in einem dreimonatigen Online-Programm gecoacht, um aus ihrer Idee einen Prototypen zu machen. Noch bis zum 15. Juli können sich Start-up-Teams auf der Website bewerben. ➡️ Wikimedia (Unlock)
  • [ Europäisches Parlament wird zur Notunterkunft ]
    Etwa 100 Räume in einem Bürogebäude des Europäischen Parlament sind zu Notunterkünften für Frauen umgewandelt worden, die besonders unter der Coronakrise zu leiden haben. Darunter sind viele Opfer häuslicher Gewalt und Frauen, die vorher auf der Straße lebten. Außerdem kochen die Kantinen des Brüsseler Parlaments Mahlzeiten für Tafeln und andere Hilfsorganisationen und Chaffeure bieten freie Fahrten für medizinisches Personal an. Die Initiative geht auf Parlamentspräsident Sassoli zurück, der auf diese Weise die sozialen Dienste in Brüssel entlasten will. Etwa 95 Prozent der Mitarbeiter des Europäischen Parlaments arbeiten derzeit aus dem Home Office. ➡️ Euractiv (Meldung) | Europäisches Parlament (Rede Präsident Sassoli)
  • [ Wie Abgeordenete in der Corona-Pandemie kommunizieren ]
    Digitale Veranstaltungsformate haben noch nicht alle ParlamentarierInnen überzeugt: Rund 16 Prozent der Befragten fehlt bei Online-Veranstaltungen die inhaltliche Relevanz, etwa 8 Prozent vermissen informelle Gespräche am Rande von Veranstaltungen. Das hat die Kommunikationsagentur MSL in einer Stichproben-Umfrage zum Kommunikationsverhalten im Bundestag während der Corona-Krise festgestellt. Von rund 26 Umfrage-Teilnehmenden gab der größte Teil der zufällig ausgewählten Abgeordneten aller Fraktionen an, seit Beginn der Kontaktbeschränkungen verstärkt auf Videokonferenzen zu setzen. Besonders beliebt ist auch hier der Anbieter Zoom. ➡️ MSL (Pressemitteilung)
  • [ Bundesregierung schafft Voraussetzungen für reine Briefwahl ]
    Die Bundesregierung will die Voraussetzungen dafür schaffen, dass Bundestagswahlen im Notfall künftig auch als reine Briefwahlen abgehalten werden können. Bisher gibt es dafür noch keine gesetzliche Grundlage. Strittig ist allerdings, ob auch der Prozess der KandidatInnenauswahl vor der Wahl komplett auf eine Briefwahl umgestellt werden kann. Abgeordnete der Regierungsfraktionen meldeten hier Zweifel an. Ähnliche Briefwahlregelungen braucht es auch in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt. In diesen Bundesländern stehen im kommenden Jahr Landtagswahlen an. Für die nordrhein-westfälischen Kommunalwahlen im September wurden die entsprechen Voraussetzungen bereits geschaffen. ➡️ Rheinische Post (Meldung)
  • [ Ungarn und Polen laut Freedom House keine Demokratie mehr ]
    Die US-amerikanische NGO “Freedom House” sieht Ungarn nicht mehr als Demokratie. Sie stufte das Land vom Status einer “semi-konsolidierten Demokratie” auf den Status eines “hybriden Regimes” herab. Die Organisation hat für ihren “Nations in Transit”-Bericht den Zustand der Demokratie in 29 Staaten von Zentraleuropa bis nach Zentralasien untersucht. Darunter sind in diesem Jahr so wenige Demokratien wie noch nie seit 1995, als der erste Bericht dieser Art veröffentlicht wurde. Neben Ungarn sehen die WissenschaftlerInnen auch Polen auf einem ähnlichen Kurs. Sie führen den Abstieg beider Staaten unter anderem auf die Tatenlosigkeit der Europäischen Union zurück. ➡️ Politico (Meldung) | Freedom House (Bericht)


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Merkel, Schäuble und Steinmeier begehen Tag der Befreiung

Staatsakt ohne Staatsvolk: Die fünf VertreterInnen der deutschen Verfassungsorgane gedenken in der Neuen Wache der Opfer, andächtig vor der Pietà der Künstlerin Käthe Kollwitz.

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Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas
Das Denkmal für die ermordeten Juden Europas mitten in Berlin ist die zentrale Holocaustgedenkstätte Deutschlands, ein Ort der Erinnerung und des Gedenkens an die bis zu sechs Millionen jüdischen Opfer des Holocaust. Es wurde am 10. Mai 2005 feierlich eröffnet. Das Denkmal besteht aus dem von Peter Eisenman entworfenen Stelenfeld und dem unterirdisch gelegenen Ort der Information. Der Eintritt ist frei.

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11. Mai 2020