politnews – Letzte Chance für die Wahlrechtsreform

[ Mit Meldungen zu: Grimme Online Awards für Drosten-Podcast und Rezo, Werbeboykott gegen Facebook, Umzug Onlinemagazin ze.tt zu ZEIT ONLINE, Situation ziviler Organisationen durch Corona und Wunsch von Bürger:innen nach mehr EU-Integration ]

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Auch in der heute beginnenden letzten Sitzungswoche vor der Sommerpause stehen die Maßnahmen gegen die Corona-Krise im Mittelpunkt des parlamentarischen Betriebs. Aber neben dem Kampf gegen die Pandemie, die im ersten Halbjahr alle anderen Themen zu politischen Nebenschauplätzen degradiert hat, stehen noch andere Fragen auf den Tagesordnungen, bevor es in eine neunwöchige Tagungspause geht.

Zum Beispiel das Wirecard-Debakel um den ersten deutschen DAX-Konzern, der Insolvenz anmelden musste. Mit Kursverlusten von bis zu 99 % in der Spitze ist die Aktie, die im September 2018 in den Index aufgenommen wurde, nun Börsen-Zockerware. Schon Anfang 2019 wurden Ungereimtheiten in den Wirecard-Bilanzen bekannt, bei der Bankenaufsicht BaFin wurde das jedoch lange nicht ernst genommen und an die unterbesetzte Deutsche Prüfstelle für Rechnungslegung (DPR) weitergegeben, die für die Bearbeitung des Milliardenvolumens gerade mal einen einzigen Mitarbeiter abstellen konnte. Ein Ergebnis der Prüfung liegt bis heute nicht vor. Der FDP-Abgeordnete Frank Schäffler fordert nun Aufklärung und will in der parlamentarischen Fragestunde am Mittwoch Auskunft vom Finanzministerium darüber, wann und in welchem Umfang Prüfungen erfolgt sind. Auch die EU-Kommission hat eine Untersuchung angekündigt. Sowohl das Bundesjustiz- als auch das Bundesfinanzministerium kündigten bereits Verträge mit der DPR in Folge der Affäre.

Die weitaus relevantere Causa für den politischen Betrieb ist jedoch die Fortsetzung der unendlichen Geschichte namens Wahlrechtsreform. Schon in der letzten Legislatur konnte keine Einigung für eine Verkleinerung des Bundestags gefunden werden, in der Folge kam es nach der Bundestagswahl 2017 zum größten Bundestag aller Zeiten: Durch Überhangs- und Ausgleichsmandate zogen 709 ParlamentarierInnen ein, so viele VolksvertreterInnen wie kein anderes westliches Parlament hat. Die „Sollgröße“ liegt bei 598 Sitzen. Für die Wahl im nächsten Jahr sind sogar mehr als 800 MdB „zu befürchten“. Eine dermaßen wachsende Volksvertretung hätte nicht nur enorme Kosten und Raumknappheit im Berliner Regierungsviertel zur Folge, auch die inhaltlichen Zuständigkeiten der Abgeordneten müssten immer kleinteiliger vergeben werden. Insbesondere bei den großen Fraktionen könnte das eine sinnhafte und effiziente inhaltliche Arbeit behindern. Der Politoge Bernhard Wessels im taz-Interview zu den Risiken eines aufgeblähten Bundestags.

Das eher ungewöhnliche Bündnis aus FDP, Linken und Grünen hat in dieser Sache schon länger einen gemeinsamen Gesetzentwurf (Drucksache für Politiknerds) vorgelegt, in dem sie die Reduzierung der Wahlkreise fordern. Was von der CSU strikt abgelehnt wird, zumindest bisher. Unionsfraktionsgeschäftsführer Ralph Brinkhaus versuchte sich am Wochenende an einem Kompromissvorschlag, der den Bundestag auf 750 Sitze beschränken soll, also immer noch 41 mehr als derzeit. Auch dieser wurde von der Schwesterpartei umgehend kassiert, weil er den Einzug von direkt gewählten Abgeordneten gefährden würde. Hintergrund: Die CSU holt nach wie vor viele Direktmandate, bei der letzten Bundestagswahl gewann sie alle 47 bayerischen Wahlkreise.

Allerdings mussten sich die Christsozialen nun doch dem Druck beugen und gingen heute mit einem eigenen Kompromissvorschlag an die Öffentlichkeit. Dieser sieht eine einmalige Höchstgrenze von 699 Abgeordneten für die Bundestagswahl 2021 vor, ab 2025 sollen die Sitze dann schrittweise reduziert werden, auch durch die Reduzierung von Wahlkreisen.

Damit könnte die CSU einer Abstimmung ohne Fraktionszwang über den Oppositionsvorschlag zuvorkommen, welche diese für den letzten Sitzungstag am Freitag fordert. Ein solches Vorgehen könnte rechnerisch sogar Erfolg haben, wenn die SPD, von der Koalitionsdisziplin entbunden, mitstimmen würde. Sollte bis zur Sommerpause keine Lösung gefunden werden, schließen viele BeobachterInnen eine Reform bis zur nächsten Bundestagswahl aus.

Auch jenseits der aus allen Nähten platzenden Reichstagskuppel wird Politik gemacht:

  • In der ersten Runde der polnischen Präsidentschaftswahl kam der Liberale Rafał Trzaskowski auf 30 % und tritt in zwei Wochen in einer Stichwahl gegen den rechtskonservativen Amtsinhaber Andrzej Duda an, der 42 % holte. Die Tagesschau über den Warschauer Bürgermeister und den „Hoffnungsträger des liberalen Polens“. Die Wahlbeteiligung war mit 64 % für polnische Verhältnisse überdurchschnittlich hoch.
  • Bei den französischen Kommunalwahlen gab es bei einer wiederum historisch niedrigen Wahlbeteiligung von 40 % Rückschläge für Präsident Macron und seine Partei La République en Marche. Grüne KandidatInnen gewannen u. a. in den Großstädten Straßburg, Lyon, Besançon und Bordeaux die Rathäuser. Bisher wurde nur Grenoble grün regiert. Paris bleibt dagegen in sozialistischer Hand, wenngleich mit sehr grün gefärbter Agenda. Albrecht Meier kommentiert im Tagesspiegel, warum ein grün-linkes Bündnis eine Gefahr für Macrons Wiederwahl werden kann.
  • Am Mittwoch übernimmt Deutschland für ein halbes Jahr die EU-Ratspräsidentschaft. Durch die Corona-Krise werden sich die geplanten Schwerpunkte stark verschieben. Vor allem am Erfolg des Wiederaufbaufonds wird die deutsche Amtszeit gemessen werden, Themen wie Klimaschutz, Digitalisierung und sogar der Brexit könnten in den Hintergrund treten. Nicolai von Ondarza von der SWP spricht mit dem Deutschlandfunk über die chronisch überschätzen Möglichkeiten des Vorsitzes.

Mit besten Grüßen zum Wochenstart
Philipp Sälhoff

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  • [ Grimme Online Awards für Drosten und Rezo ]
    Der Star-Virologe und Corona-Erklärer Christian Drosten wurde mit Jury- und Publikumspreis des Grimme Online Awards ausgezeichnet. Er erhielt den als wichtigste deutsche Auszeichnung für Online-Publizistik geltenden Preis für seinen NDR-Podcast, in dem er die neuesten Erkenntnisse über das Coronavirus erklärt. Laut Jury demonstriere der Podcast, wie auch ausführlicher Wissenschaftsjournalismus das Publikum fesseln kann. Außerdem gingen Auszeichnungen an den YouTuber Rezo und die Formate „STRG_F“ und „Karakaya Talk“. ➡️ SPIEGEL ONLINE (Bericht) | Grimme Online Award (Liste der PreisträgerInnen)
  • [ Facebook-Werbeboykott weitet sich aus ]
    Immer mehr Unternehmen verzichten auf Facebook-Werbung, solange der Konzern keine striktere Handhabe zur Eindämmung von Desinformation und Hassrede einführt. Neben Northface haben nun auch Starbucks, Levi’s, Coca Cola und Unilever Werbeanzeigen auf Facebook und Instagram eingestellt und sich der #StopHateForProfit-Kampagne angeschlossen. Der Konzern, der 98 % seines Umsatzes durch Werbung generiert, verlor zwischenzeitlich 50 Milliarden an Börsenwert. KritikerInnen sehen in der Aktion aber auch den Versuch, durch die Coronakrise reduzierte Werbebudgets als PR-Maßnahme zu tarnen. ➡️ RND (Bericht)
  • [ ze.tt wird Ressort von ZEIT ONLINE ]
    Nachdem der Spiegel vor wenigen Tagen erklärte, sein Jugendangebot bento in der bisherigen Form zu beenden, zieht nun auch die ZEIT Konsequenzen: Das Online-Spin-Off ze.tt wird zwar als Marke erhalten bleiben, soll aber im Herbst 2020 in ein Ressort von ZEIT ONLINE überführt werden. Auch das „Aushängeschild der ZEIT für diverse Berichterstattung“ hatte mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu kämpfen, die durch die Coronakrise noch verstärkt wurden. ➡️ ZEIT Verlagsgruppe (Pressemitteilung) | Süddeutsche (Meldung)
  • [ Zivilgesellschaftliche Teilhabe litt besonders unter der Coronakrise ]
    In der Coronakrise seien zivilgesellschaftliche Organisationen nicht ausreichend an demokratischen Entscheidungsprozessen beteiligt gewesen, außerdem seien diese durch viele Rettungsmechanismen gefallen. Dies analysiert die neue Kurzstudie „Demokratische Teilhabe der Zivilgesellschaft in der Corona-Pandemie“ von Greenpeace und der Gesellschaft für Freiheitsrechte. Jedoch könne die Pandemie ebenfalls ein Anstoß für überfällige Maßnahmen der Digitalisierung von zivilgesellschaftlicher Teilhabe und Beteiligung sein. ➡️ Greenpeace (Kurzstudie)
  • [ Coronakrise stärkt Wunsch nach europäischer Kooperation vor allem im Süden ]
    Die Coronakrise hat für die Mehrheit der EuropäerInnen verdeutlicht, dass mehr statt weniger europäische Integration nötig ist. Im Schnitt stimmten 63 % der in einer ECFR-Umfrage befragten EuropäerInnen dieser Aussage zu, vor allem in Portugal (91 %), Spanien (80 %) und Italien (77 %) waren die Werte überdurchschnittlich hoch. Als hilfsbereiter Partner wurde sie dennoch kaum wahrgenommen, hier konnte eher die WHO punkten. China gewann vor allem in Italien an Ansehen. ➡️ ECFR (Umfrage mit Infografiken) | Süddeutsche (Zusammenfassung)


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Germany. 12 million downloads.

(Twitter-) Deutschland streitet erbittert über die polemische Kolumne zur “Abschaffung der Polizei” von Hengameh Yaghoobifarah in der taz. Während sich die einen im Sinne der Pressefreiheit solidarisieren, hat Horst Seehofer nun Anzeige gegen Yaghoobifarah angekündigt. Auch sein Parteifreund und CSU-Generalsekretär Markus Blume war aufgebracht, sah aber zumindest ein, dass es die falsche Form war, mit der ein_e Journalist_in zur Zielscheibe gemacht wurde. 

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Bundeswahlleiter
Der Bundeswahlleiter und sein Stellvertreter werden vom Bundesminister des Innern auf unbestimmte Zeit ernannt. Dabei hat es sich wegen der mit diesem Amt verbundenen Aufgaben und seiner technischen Möglichkeiten als vorteilhaft erwiesen, den Präsidenten des Statistischen Bundesamtes zum Bundeswahlleiter zu bestellen.

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29. Juni 2020