politnews – Europawahl: Grüner Höhenflug und sozialdemokratisches Tränental

[ Mit Meldungen zum Strache-Video, überschätzten Fake News, den Rezo-Videos, mangelndem Vertrauen in EU-PolitikerInnen und dem Relotius-Abschlussbericht ]

Mit Meldungen zum Strache-Video, überschätzten Fake News, den Rezo-Videos, mangelndem Vertrauen in EU-PolitikerInnen und dem Relotius-Abschlussbericht.

Europa hat gewählt und die großen Wahlgewinner sind – zumindest in Deutschland – die Grünen: Mit 21 % der Stimmen wurden sie zweitstärkste Kraft und holten ein neues Rekordergebnis bei bundesweiten Wahlen. Bei WählerInnen unter 60 Jahren lagen sie sogar auf dem ersten Platz. In der Alterskohorte unter 30 können die Grünen mit 33 % mehr Stimmen auf sich vereinen als Union, SPD und FDP zusammen. Dazu wurden sie in den acht größten Städten stärkste Kraft – erst Essen auf Platz neun ging an die CDU, Leipzig wieder an die Grünen. Die Tagesschau mit einer interaktiven Karte der Ergebnisse aus allen Landkreisen und Städten.

Für Union und SPD ist die Wahl eine Enttäuschung bzw. im zweiteren Fall eher ein Desaster. Mit 15,8 % stellten die SozialdemokratInnen einen neuen Negativrekord auf: Noch nie schnitt die SPD in bundesdeutschen Wahlen so schlecht ab. Ein historischer Überblick der SPD-Ergebnisse in unserer Zeitleiste. Nicht nur die GenossInnen fragen sich nun: Wie lange kann sich Parteichefin Nahles noch im Amt halten? Zusammen verloren die beiden Koalitionsparteien knapp 20 Prozentpunkte. Die Union kam trotz ihrer krachend gescheiterten Krisenkommunikation nach den “Rezo-Videos” noch mal mit 28,9 % und einem blauen Auge davon. Bemerkenswert auch das Abschneiden der Klein- und Kleinstparteien: 15 % der WählerInnen gaben Parteien ihre Stimme, die jeweils weniger als 5 % erzielten. Die Satirepartei „Die Partei“ schickt drei Abgeordnete nach Brüssel, die Freien Wähler zwei und ÖDP, Tierschutzpartei, Familienpartei, Piraten und Volt jeweils einen. Die Wahlbeteiligung stieg sowohl in Deutschland (auf 61,4 % – Verlauf in der Übersicht der letzten Europawahlen) als auch in Europa (auf 50,9 % – Übersicht) deutlich an. Das vorläufige amtliche Endergebnis inkl. der Werte aller 37 Parteien über 0,1% finden Sie hier graphisch aufbereitet.

Insgesamt waren knapp 400 Millionen Menschen in 28 Ländern wahlberechtigt, denn auch Großbritannien nahm an der Wahl teil. Dort holte die neue Brexit-Partei von Nigel Farage knapp 32 % der Stimmen und damit den klaren Wahlsieg. Europaweit konnten vor allem Liberale, Grüne und Rechte Sitze im EP dazugewinnen, auch hier auf Kosten von Konservativen und SozialdemokratInnen/SozialistInnen. Die genaue EP-Sitzverteilung finden Sie hier. Wie es jetzt weiter geht und vor allem, wer KommissionspräsidentIn wird, entscheidet sich in den nächsten Tagen. Spitzenkandidat Manfred Weber, dessen EVP-Fraktion die stärkste Kraft im EU-Parlament stellen wird, erhebt nach wie vor Anspruch auf das Amt des Kommissionspräsidenten, ebenso Frans Timmermanns von der SPE. Der potenzielle Nachfolger Jean-Claude Junckers benötigt dazu eine doppelte Mehrheit: Staats- und Regierungschefs müssen ihn/sie mit einer verstärkten qualifizierten Mehrheit vorschlagen (mindestens 72 % der 28 Mitgliedstaaten, die gleichzeitig für wenigstens 65 % der EU-Bevölkerung stehen), das Parlament muss anschließend mit mindestens 376 Abgeordneten zustimmen. Wird der/die KandidatIn abgelehnt, muss innerhalb eines Monats ein neuer Vorschlag gemacht werden.

Auch in Bremen wurde gewählt: Nach 74 Jahren muss die SPD dort den Platz an der Spitze räumen. Die CDU holte mit Spitzenkandidat Carsten Meyer-Heder 25,5 %, Amtsinhaber Sieling kam nur auf 23,6 %. Auch hier stieg die Wahlbeteiligung deutlich auf 62 % an. Die Königsmacher sind nun die Grünen. Sie könnten die Jamaika-Option mit Wahlgewinner Meyer-Heder ziehen oder die erste rot-rot-grüne Landesregierung auf westdeutschem Boden möglich machen. In Anbetracht der gemäßigten Bremer Linken und der potenziell zahlreichen Konfliktfelder mit den Weser-Liberalen, gilt das Linksbündnis als wahrscheinlicher. Die Frau, die das entscheiden muss, ist Grünen-Chefin Maike Schaefer, die sich im Tagesschau-Interview zu den anstehenden Sondierungsgsprächen äußert. Die vollständigen Wahlergebnisse und Koalitionsmöglichkeiten finden Sie hier.

Mit den besten Grüßen
Philipp Sälhoff


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  • Drahtzieher hinter Strache-Video bekennt sich – Der Wiener Anwalt Ramin M. gab über (wiederum seinen Anwalt) bekannt, dass er der Urheber des Ibiza-Videos ist, das die österreichische Regierung in eine Krise stürzte. Es sei ein “zivilgesellschaftlich motiviertes Projekt” gewesen. Strache selbst kündigte rechtliche Schritte an, gab aber nicht bekannt, welchen Straftatbestand er gegeben sieht. Baden-Württembergs Datenschutz-Beauftragter Stefan Brink kritisierte die Veröffentlichung: Das Täuschen politischer GegnerInnen und die Verletzung ihrer Privatsphäre schade der politischen Kultur und sei kriminell. Medienrechtler widersprechen: Das öffentliche Informationsinteresse überwiege in dem Fall klar den Schutz der Persönlichkeit. ➡️ Welt (Artikel) | Meedia (Datenschutz-Frage)
  • Gefahr der Falschmeldungen zur Europawahl überschätzt – Laut einer Umfrage der Beratungsfirma PwC geht die Mehrheit der Deutschen davon aus, dass gezielte Falschmeldungen die Europawahl beeinflusst haben könnten. Eine Untersuchung des Oxford Internet Institut kommt jedoch zu einem anderen Ergebnis: “Junk News” sind in sozialen Netzwerken weitaus seltener vertreten als vertrauenswürdige Nachrichten. Auf Facebook erzeugen unseriöse Beiträge zwar mehr Interaktionen, etablierte Medien erreichen durch häufigere Veröffentlichung trotzdem insgesamt mehr NutzerInnen. ➡️ Spiegel Online (Artikel) | PwC (Umfrage) | OII (Studie)
  • Die Rezo-Videos und die CDU – In der letzten Woche bestimmten vor der Europawahl zwei YouTube-Videos den politischen Diskurs in Deutschland: Influencer Rezo kritisierte in einem einstündigen Video die Politik der Union. Am Freitag folgte ein Aufruf zur Nicht-Wahl von Union, SPD und AfD bei der Europawahl – Hauptkritikpunkt ist die “unverantwortliche Klimapolitik”. Zusammen haben beide Videos bereits mehr als 15 Millionen Views generiert. Die CDU-Parteiführung reagierte nach einigem Hin und Her mit einem offenen Brief und einem Dialogangebot. Eine Video-Antwort von Philipp Amthor wurde kurzfristig zurückgezogen. ➡️ YouTube (CDU-Kritik) | YouTube (Wahlaufruf) | polisphere (Überblick)
  • Wenig Vertrauen in EU-, viel in LokalpolitikerInnen – Die Deutschen setzen mehr Vertrauen in die kommunalpolitische Ebene als in ihre VertreterInnen in EU, Bund und Ländern. Laut einer Studie der Bertelsmann-Stiftung zu politischer Partizipation bringen nur 28 % der Befragten EU-PolitikerInnen großes oder sehr großes Vertrauen entgegen. Im Gegensatz dazu genießen BürgermeisterInnen das Vertrauen einer Mehrheit von 64 %. Das Interesse für Kommunalpolitik ist mit 66 % jedoch nur leicht höher als für Europapolitik (61 %). ➡️ SWR (Artikel) | Bertelsmann-Stiftung (Studie)
  • SPIEGEL veröffentlicht Relotius-Bericht – Auf fast 150 Seiten analysierte ein dreiköpfiges Team für den SPIEGEL den Relotius-Skandal und zeichnet ein “verheerendes Bild”. Der Bericht formuliert darüber hinaus Vorschläge, wie dem in Zukunft besser begegnet werden kann, ein neues journalistisches Regelwerk ist in Arbeit. Auch der ZEIT-Verlag, für den Relotius ebenfalls tätig war, formuliert Regeln neu. So wird u. a. die Vorspiegelung von Augenzeugenschaft und die Verfremdung der Wirklichkeit durch dramaturgische Mittel explizit untersagt. ➡️ Spiegel Online (Abschlussbericht) | Meedia (Artikel) | ZEIT Online (Blog-Beitrag)


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Thread-Kompetenz

CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak reagierte auf die Kritik von Rezo auf Twitter – allerdings nicht mit einem sogenannten Thread, in dem man zusammenhängende Tweets üblicherweise darstellt, sondern mit einzeln numerierten Tweets. Für Twitter-Profis ein Fauxpas. Aber Ziemiak hat dazu gelernt: Sein Statement zur Europawahl ging heute im passenden Format ins Netz.

13.06.2019 – Data Debate #13: Digitale Zivilgesellschaft – Vom Klicktivismus zum Aktivismus?
Tagesspiegel | Podiumsdiskussion | Digitalisierung | Telefónica BASECAMP | 19:00 Uhr

Das Potenzial des Internets im politischen Entscheidungsprozess wurde lange ungehindert auch von radikalen Netzaktivisten genutzt. Jetzt formiert sich die Zivilgesellschaft in zahlreichen digitalen Bürgerbewegungen gegen das postfaktische Klima des Internets. Die Akteure der Bewegungen gehen aktiv gegen Hass, Diskriminierung und Populismus im Netz vor und widerlegen Falschaussagen und Hassreden mit faktischen Beiträgen. Zudem nutzen sie soziale Netzwerke für neue Formate der politischen Beteiligung, zeigen partizipative Aspekte der Demokratie auf, senken Hürden für gesellschaftliches Engagement und erhöhen die Reichweite von Aktivitäten.

Täglich aktuelle Termine finden Sie auf politcal.de – auch bereits vorsortiert für InstitutionenStakeholder und Political Consulting.

Das Progressive Zentrum sucht Senior-Projektmanager/in (m/w/d)
Berlin | Bewerbungsfrist: 31.05.2019| Arbeitsbeginn: ab sofort | Vollzeit

Die liberale Demokratie sieht sich auf existenzielle Weise herausgefordert: Politikverdrossenheit und Misstrauen gegenüber den demokratischen Institutionen durchziehen die Gesellschaft bis tief in ihre Mitte. Sinkende Vertrauenswerte gegenüber Regierung, Parlamenten und Parteien und ihren RepräsentantInnen bestimmen das Bild. Gleichzeitig sind demokratiegefährdende rechtspopulistische Bewegungen und Parteien auf dem Vormarsch. Während der Wesenskern der Demokratie zeitunabhängig aktuell ist, sind es Organisationsstruktur und Prozesse nicht. Unsere Vorschläge sollen daher zu demokratischen Institutionen beitragen, die den komplexen Aufgaben unserer Zeit gewachsen sind. Deshalb entwickeln wir im Rahmen eines interdisziplinären, internationalen Forschungs-und Kreativprozesses innovative Veränderungsideen für die zentralen Institutionen unserer Demokratie und zur Stärkung der europäischen Zivilgesellschaft.

Sie suchen selbst Verstärkung? Auf politjobs.de unterstützen wir Sie bei der Personalsuche. Schreiben Sie uns einfach unter politjobs@polisphere.eu.

Europäische Kommission
Die Europäische Kommission unterhält in allen 28 Mitgliedstaaten der Europäischen Union Vertretungsbüros. Diese Vertretungen fungieren als „Stimme und Ohr“ der Europäischen Kommission. In Deutschland bilden die Vertretung in Berlin sowie die Regionalvertretungen Bonn und München die Bindeglieder zwischen deutscher Politik und Öffentlichkeit einerseits und dem Kommissionssitz in Brüssel andererseits. Die heutige Regionalvertretung Bonn wurde als erstes Vertretungsbüro in der Geschichte der Europäischen Kommission bereits im März 1954 in der damaligen Bundeshauptstadt eingerichtet.

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27. Mai 2019