Die Europawahl als Test für die digitale Demokratie

[ von Philipp Sälhoff ]

Am Sonntag wird das 9. Europäische Parlament gewählt, der direkte Europawahlkampf blieb frei von größeren Skandalen. Gerade die netzpolitischen Debatten um die Urheberrechtsdirektive zeigen: Eine funktionierende Demokratie ist nicht mehr gegen, sondern nur mit Digitalisierung zu denken. Die digitalen Gefahren und Einflussmöglichkeiten für eine faire politische Auseinandersetzung von außen und innen sind jedoch nach wie vor akut. Ein Gastbeitrag von Philipp Sälhoff für den Deutschen Führungskräfteverband.

Bei der kommenden Wahl zum Europäischen Parlament am 26. Mai 2019 steht ein erstarkter antieuropäischer Block den Kräften der europäischen Integration gegenüber. Ersterer steht in seinen Positionen nicht nur oft europäischen Grundwerten entgegen, er ist außerdem nicht zimperlich in der Wahl seiner Mittel, wenn es um die politische Auseinandersetzung auf digitaler Ebene geht. Auch von außen ist Einflussnahme zu erwarten, denn die EU steht als wirtschaftliche, politische und nicht zuletzt auch militärische Macht im globalen Wettbewerb mit anderen Kräften – insbesondere Russland und China –, in deren Interesse vieles, aber keine prosperierende und geeinte EU ist. Die Arten, auf denen diese und andere politische Meinungsbildung digital beeinflusst haben, hat sich in den letzten Jahren stetig weiterentwickelt, wie folgende Beispiele zeigen.


Die digitale Transformation der politischen Auseinandersetzung


Beim „Pizzagate“ aus dem amerikanischen Wahlkampf von 2016 wurde eine Pizzeria in Washington Schauplatz eines Gewaltaktes: Ein Bewaffneter stürmte mit einem geladenen Maschinengewehr das Lokal, weil er den Falschmeldungen Glauben schenkte, dass in einem Hinterzimmer des Restaurants ein Kinderpornoring agiere, dem u. a. auch Hillary Clinton angehören sollte. Kurz vor der französischen Präsidentschaftswahl 2017 wurden im Zuge des sogenannten „Macron Leak“ sensible Daten aus dem Parteiumfeld des progressiven Shootingstars im Netz gestreut – ein großer Teil davon war gefälscht. Anfang diesen Jahres versetzte eine sogenannte Doxing-Attacke die politische Szene in Deutschland in Aufruhr. Ein Schüler aus Heilbronn stellte privateste Nachrichten und Informationen über ihm missliebige Spitzenpolitiker und andere Personen des öffentlichen Lebens ins Netz.

Diese unvollständige Auswahl an Angriffen zeigt: Bei allen Möglichkeiten der politischen Bildung und des Austausches, die digitale Kanäle mit sich bringen, bergen sie auch neue Gefahren für den politischen Diskurs. Grundsätzlich neu sind diese Methoden nicht: Gezielte Desinformation („Fake News“) ist im politischen Wettbewerb ein alter Hut.

Die großflächige und schnelle Skalierbarkeit sowie die individuelle Ansprache der Zielgruppe, die das Netz ermöglicht, hingegen nicht. Durch die Patchwork-Realitäten („Filterbubbles“), die sich Nutzer schaffen können – und die durch Plattform-Algorithmen sogar gefördert werden (man bekommt mehr von dem, das man mag) –, bekommen diese Mechaniken eine neue Schlagkraft. Das Leaken von sensiblen Daten, um politische Gegner zu diskreditieren, ebenso. Auch hier gilt: Durch die Digitalisierung der Kommunikation gibt es sowohl mehr zu „erbeuten“ als auch mehr Möglichkeiten, Informationen schneller zu verbreiten.

Gezielte Ansprache von Wählern durch „Targeting“ ist davon abzugrenzen. Politische Akteure sprechen Zielgruppen seit jeher mit mehr oder weniger passgenauen Formaten und Botschaften an: Wahlkämpfer in sozialen Brennpunkten haben andere Sprechzettel als ihre Kollegen im Villenviertel. Die digitalen Kanäle und die dort verfügbare Datenmenge erlauben hier jedoch eine Passgenauigkeit einer neuen Dimension. Der Cambridge-Analytica-Skandal war daher auch eher einer über die Frage, wie das Unternehmen an die Daten gelangt ist. Weniger, dass Daten zur fokussierten Ansprache genutzt werden.

Demokratie-InnovatorInnen und Interessierte diskutierten beim europX Meet Up auf der re:publica 2019 über Lösungsstrategien für die Herausforderungen digitaler Demokratie. | Foto: re:publica/Stefanie Loos/Flickr/CC BY-SA 2.0


Gegenstrategien für Politik, Medien und Gesellschaft


All das verändert die Art und Weise, wie politischer Wettstreit betrieben wird, und dem gilt es zu begegnen. Medien und Journalisten müssen einen übergreifenden Umgang mit durch Leaks erlangten Daten finden. Zwar liegt es in der Verpflichtung des Journalismus, alle zur Verfügung stehenden Daten zu nutzen, jedoch darf er sich nicht instrumentalisieren lassen. Ein schmaler Grat. Nicht zu vergessen: In der Vergangenheit gab es u.a. durch die Enthüllungen Edward Snowdens oder die Panama Papers viele bedeutsame und aufklärende Leaks.

Die Entwicklungen (und Errungenschaften) der digitalen Diskursräume werden nicht zurückgedreht werden können. Sie sollten es auch nicht. Die Frage ist, wie die Gesellschaft dazu befähigt werden kann, auch mit den Gefahren dieser Arenen umzugehen.

Um die Anfälligkeit für Fake News – gerade unterJugendlichen – zu verringern, gehört digitale Medienkompetenz in alle Lehrpläne.

Wenn der französische Präsident Macron nun eine europäische Agentur für den Schutz der Demokratie vorschlägt, um Wahlen vor Hackerangriffen und Manipulationen zu schützen, ist das nur folgerichtig. Die Europäische Union und ihre Mitgliedsstaaten sind nicht hinreichend gegen gezielte digitale Angriffe gewappnet, sei es aus dem Inneren oder dem Äußeren. Die East StratCom Task Force, eine Anti-Desinformationsabteilung der EU, ist ein guter Ansatz, der jedoch mehr Mittel bedarf.


Streit in der Sache, Einigkeit im Stil


Die Zukunft des europäischen Projekts sollte anhand von Sachfragen entschieden werden, von denen es mehr als genug gibt: die europäische Arbeitslosenversicherung, eine gemeinsame Außen- und Verteidigungspolitik oder der Klimaschutz. Der Streit in der Sache gehört zum urdemokratischen Wesenskern der EU. Dass dieser Streit mit fairen Mitteln abläuft, jedoch auch. Gezielte und manipulative Eingriffe in diesen sind eine Gefahr für demokratische Wahlen und den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Die Europawahl 2019 wird nicht über Wohl und Wehe des europäischen Projekts entscheiden, dafür sind die Nationalstaaten noch zu stark. Sie wird aber ein Test dafür sein, ob Europa seine eigene Demokratie auch im Netz verteidigen kann.

Der Artikel erschien zuerst im April 2019 im Mitgliedermagazins „PERSPEKTIVEN“ des DFK – Verband für Fach- und Führungskräfte.


Über den Autor


Philipp Sälhoff ist Geschäftsführer von polisphere, dem Ideenlabor und Serviceanbieter für den modernen Politikbetrieb. Er hat im Vorlauf der Europawahl 2014 die überparteiliche Mobilisierungskampagne iChange Europe geleitet. Im Zuge der diesjährigen EP-Wahl leitet er das von der Stiftung EVZ geförderte europX-Projekt, das Ansätze und Tools sammelt, wie digitale Technologien Demokratien schützen und weiterentwickeln können.

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