Riot Act im Kanzleramt

Die politnews vom 23. Januar 2023

Neuer Parlamentskreis Feministische Außenpolitik gegründet | Barcelona ist erste Europäische Demokratie-Hauptstadt | Instagram-Account der Bundesregierung gestartet | Vorstellung des Thinktanks Agora Agrar | Studie zur SEO-Nutzung im Bundestagswahlkampf u. v. m.

WAHLTREND: Union & SPD legen zu | BUCH: Feinde Fremde Freunde. Polen und die Deutschen | TWEET: Rishi in der Rush Hour | STAKEHOLDER: Parlamentarische Versammlung der NATO

Liebe Leserin, lieber Leser,

wenn es um Fragen militärischer Unterstützung geht, sind die internationalen Partner Kummer mit Berlin gewohnt. Doch was sich um das Ukraine-Treffen in Ramstein über dem Kanzleramt entlud, ist schon bemerkenswert. Sowohl US-Verteidigungsminister Lloyd Austin als auch der Nationale Sicherheitsberater Jake Sullivan sollen mit ihren Gesprächspartnern Wolfgang Schmidt und Kanzler-Berater Jens Plötner in “ungewohnter Schärfe” aneinandergeraten sein. Joe Bidens Sicherheitsberater hat laut einem SZ-Bericht den “Riot Act verlesen“, was auf gut Deutsch so viel heißt, wie dem Verbündeten den Marsch blasen. Allein, dass der Vorgang (der von deutscher Seite natürlich dementiert wird) aus dem US-Verteidigungsministerium, das nicht gerade als Tratschbude bekannt ist, an die Öffentlichkeit durchgesickert ist, lässt auf eine hinreichende Verärgerung in Washington schließen. Stefan Kornelius in der Süddeutschen mit der kostenpflichtigen Exklusiv-Story, n-tv.de hat eine frei zugängliche Zusammenfassung. Auch die Berichterstattung der renommierten Washington Post und New York Times ließ keinen Zweifel daran, dass man in Pentagon und Weißem Haus gerade nicht gut auf die Scholz-Linie zu sprechen ist. Polen (siehe Buch der Woche) hat bereits angekündigt, die Leoparden notfalls auch ohne deutsche Zustimmung freizugeben.

Dass die Bundesregierung auf Dauer gegen den Druck der internationalen Verbündeten bei ihrer Position bleibt, erscheint unrealistisch – egal, welche argumentativen Paralleluniversen Teile der SPD aufbauen. Marie-Agnes Strack-Zimmermann hat als Vorsitzende des Verteidigungsausschusses in seltener Form den Bundeskanzler öffentlich angezählt. Rolf Mützenich unterstellte ihr und anderen am Wochenende im Gegenzug, dass sie im “nächsten Schritt auch Truppen schicken wollen” würde – was, bei allem Verständnis für eine Replik auf die Schelte, jenseitig ist. Außenministerin Annalena Baerbock gab dann noch gestern Abend im französischen Fernsehen zu verstehen, dass Deutschland bei den Panzerlieferungen “nicht im Weg stehen würde”, wenn Drittstaaten nach einer Genehmigung fragen würden. Innerhalb der Koalition rumort es immer stärker, der Spiegel mit einem Bericht aus einer Ampel, in der die Funken fliegen (€).

In der Summe ergibt sich eine fatale Außenwirkung der Bundesregierung. Warum nimmt Scholz solche Flurschäden in Kauf für etwas, das nach Meinung vieler Beobachter:innen sowieso früher oder später kommen wird? Das RND hat zwei Kommunikationswissenschaftler zur Scholz´schen Sprödheit des Schweigens und Grinsens – die er selbst manchmal sichtlich etwas zu gut findet – befragt. Star-Historiker Timothy Garton Ash schlug gar die Aufnahme des “Scholzings” in den internationalen Sprachgebrauch vor.

Bei einem gewichtigen Teil der Kritik an Scholz geht es dabei weniger um die Sache – es gibt durchaus legitime Beweggründe, bei der Lieferung von Panzern vorsichtig zu sein –, sondern vielmehr um den Mangel an Erklärung und Debatte. Ein bekanntes Phänomen der Kanzlerkommunikation.

Ganz neu dabei, aber schon mittendrin: Boris Pistorius. Selten hatte ein neues Kabinettsmitglied direkt nach Amtsantritt so eine undankbare Aufgabe zu erledigen, wie der erst am Donnerstag vereidigte Verteidigungsminister. Für ihn hat Olaf Scholz außerdem sein Versprechen eines paritätisch besetzten Kabinetts aufgegeben. Obwohl der Bundeskanzler vielleicht doch mehr Zeit für die Nachfolge von Christine Lambrecht hatte, wurde Pistorius erst nach ihrem Rücktritt am Montag gefragt – die heiß gehandelte Wehrbeauftragte Eva Högl hingegen gar nicht.

  • Kritik an der Entscheidung des Kanzlers übt Anna Lehmann von der taz.
  • Gegen die Fokussierung auf Geschlechterquoten in so einer Situation spricht sich hingegen Ariane Bemmer vom Tagesspiegel aus.
  • Die internationalen Pressestimmen zur Berufung von Pistorius.
  • Wie die Lambrecht-Vertrauten jetzt mit neuen Jobs versorgt werden, hat der Business Insider recherchiert.
  • In Hannover wurde währenddessen das Kabinett neu sortiert. Stefan Weil hat bereits drei Tage nach der Ankündigung, dass Pistorius neuer Bundesverteidigungsminister wird, die personellen Lücken wieder geschlossen und die erste Innenministerin der niedersächsischen Geschichte nominiert.

Die Meldung über den Personalwechsel am Landwehrkanal ließ eine andere Meldung in den Hintergrund treten. In die endlose Geschichte der Wahlrechtsreform ist frischer Wind (wenngleich die Idee der Ampel keine neue ist) gekommen, welcher der Union aber ins Gesicht weht. Diese spricht sogar von „organisiertem Wahlbetrug“. Konkret kritisiert sie am Vorschlag der Regierungskoalition, dass den Gewinnern eines Wahlkreises nach Erststimmen unter bestimmten Umständen der Einzug in den Bundestag verwehrt bleibt, was einer Abwertung der Erststimmen gleichkäme. Der Vorschlag der Union hingegen sieht eine Reduzierung der Wahlkreise von 299 auf 270 sowie den Nichtausgleich der ersten 15 Überhangmandate vor.

  • Lenz Jacobsen analysiert den “Angriff auf die Wahlkreiskönige”.
  • Wer heute nach dem potenziell neuen Wahlrecht nicht mehr im Bundestag säße, hat die Zeit berechnet (€).
  • Warum die AfD die Ampel bei diesem Thema unterstützt, weiß die dpa.

Die Rechtsnationalen hatten aber auch anderen Grund zum Feiern, denn sie wurden vor ziemlich genau 10 Jahren gegründet und haben das politische System in Deutschland verändert. Zwischenzeitlich war die AfD in allen Landesparlamenten vertreten (und ist es bis auf den Kieler Landtag bis heute) und hat oft die politische Debatte geprägt und die demokratischen Parteien unter Druck gesetzt.

Einen weitaus geordneteren Amtswechsel als im Berliner Bendlerblock gab es auf der anderen Seite des Erdballs: In Neuseeland hat die populäre Premierministerin Jacinda Ardern überraschend ihr Amt aufgegeben und einen Nachfolger bestellt. Mit einem für die Spitzenpolitik höchst seltenen Schritt – denn die 42-jährige hatte keine aktuelle Krise oder Fehltritte zu bewältigen. Ihre Begründung lautete einfach, “dass ihr Tank zu leer sei”, um dem Job weiter gerecht zu werden.

  • Ihr Nachfolger wird der bisherige Polizei- und Erziehungsminister Chris Hipkins.
  • Die Reaktionen auf Arderns Abschied hat das RND gesammelt.

 

Mit den besten Grüßen zum Wochenstart

Philipp Sälhoff

Aktuelle politjobs
Politticker
Vorstellung des Thinktanks Agora Agrar

Vergangene Woche wurde der neue Thinktank Agora Agrar in der Repräsentanz der Bosch-Stiftung vorgestellt. Er soll anhand konkreter, wissenschaftlich fundierter Wege Empfehlungen zu klimafreundlichen Veränderungen im Landwirtschafts- und Ernährungssektor erarbeiten. Auf diese Weise möchte der Thinktank zu einem gesellschaftlichen Konsens hinsichtlich der Klimaschutzziele beitragen und breite politische Entscheidungen ermöglichen. Gefördert wird er u.a. von der Robert-Bosch-Stiftung, der Stiftung Mercator und der European Climate Foundation. Gründungsdirektor:innen sind Prof. Dr. Harald Grethe und Dr. Christine…

Barcelona ist erste Europäische Demokratie-Hauptstadt

Die Vorteile von Demokratie und Bürgerpartizipation demonstrieren – darum geht es der European Capital of Democracy-Initiative, die nun erstmals den Titel der Europäischen Demokratie-Hauptstadt 2023/24 vergeben hat. Eine europaweite Jury aus mehreren tausend Bürger:innen hat dafür Barcelona erwählt, das nun Schauplatz eines vielseitigen Programms mit demokratiefördernden Veranstaltungen und Aktivitäten sein wird.

Instagram-Account der Bundesregierung gestartet

Die Bundesregierung ist jetzt auch auf Instagram. Unter @bundesregierung sind bis jetzt acht Beiträge veröffentlicht worden und die Zahl der Follower:innen beträgt momentan ca. 16k. Besprochene Themen sind etwa die deutsch-französische Freundschaft oder die neuen LNG-Terminals, aber auch ein Q&A-Format wurde bereits durchgeführt. Verwaltet und erstellt werden die Beiträge von der Social-Media-Redaktion im Bundespresseamt.

Neuer Parlamentskreis Feministische Außenpolitik

Der neue Parlamentskreis Feministische Außenpolitik soll neue Impulse für das im Koalitionsvertrag festgehaltene Prinzip der feministischen Außenpolitik liefern. In der vergangenen Woche wurde seine Gründung bekanntgegeben. Beteiligt sind unter anderem die Abgeordneten Michelle Müntefering (SPD), Agnieszka Brugger (Bündnis 90/Die Grünen) und Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP).

Studie zur SEO-Nutzung im Bundestagswahlkampf

93% aller Websites, die im Bundestagswahlkampf 2021 von Kandidierenden eingesetzt wurden, nutzten wahrscheinlich Suchmaschinenoptimierung. Das hat eine Studie von Kay Hinz, Sebastian Sünkler und Dirk Lewandowski herausgefunden, die die SEO-Nutzung aller 6.211 Kandidierenden in einer Vollerhebung untersucht haben. Dabei zeigte sich auch, dass erfolgreiche Kandidierende, die in den Bundestag eingezogen sind, im Vorfeld eher SEO auf ihren Websites nutzten. Ebenfalls begünstigt wurde die SEO-Nutzung der Kandidierenden dann, wenn ihre…

Wahltrend
23.01.(1)

Der pollytix-Wahltrend zur Sonntagsfrage, Vorwochenvergleich in gefärbten Zahlen. Die Angaben berechnen sich aus dem gewichteten Mittel aller Sonntagsfragen der letzten 20 Tage. Den kompletten Wahltrend und alle Einzelumfragen finden Sie hier, mehr zur Methodologie hier.

Buch der Woche
Rolf Nikel

Feinde Fremde Freunde. Polen und die Deutschen

In der aktuellen Debatte über europäische Lieferungen von “Leopard 2”-Panzern an die Ukraine spielt Polen eine besondere Rolle, da es diese angeblich auch ohne deutsche Erlaubnis ausführen würde. Zusätzlich belasten immer wieder vorgebrachte polnische Reparationsforderungen – vor allem wenn wie dieses Jahr Wahlen in Polen anstehen – die politischen Beziehungen zwischen Warschau und Berlin.

Dem komplizierten Verhältnis beider Länder widmet sich der langjährige Diplomat Rolf Nikel in seinem gerade erschienenen Buch. Der ehemalige deutsche Botschafter in Polen (2014 bis 2020) beleuchtet darin unter anderem die Auswirkungen des russischen Krieges gegen die Ukraine auf dieses Verhältnis, betrachtet die gemeinsame Geschichte sowie die Rolle von Polen in EU und NATO. Und er versucht Antworten auf die Frage zu geben, wie Deutschland mit diesem schwierigen, hierzulande häufig unbeachteten Partner künftig zusammenarbeiten sollte.

 

Die Buchempfehlungen finden Sie ab sofort auch unter www.politbooks.de.

 

Benjamin Triebe

Tweet der Woche

@GHOneTV

Rishi in der Rush Hour

Vor dem Recht sind alle gleich, auch britische Premierminister. Rishi Sunak wollte dynamisch vom Rücksitz seines Dienstwagens ein Social-Media-Video aufnehmen – allerdings so dynamisch, dass der Neu-Premier den Sicherheitsgurt vergaß. Das wiederum rief die Polizei auf den Plan, die dem Tory-Politiker auch humorlos eine Strafe aufbrummte. Für die Verletzung von Corona-Regeln musste er im letzten Jahr bereits ein Bußgeld bezahlen.

 

Mareile Ihde

Stakeholder der Woche
Stakeholder der Woche(2)

Parlamentarische Versammlung der NATO

Die parlamentarische Versammlung der NATO dient seit 1955 als interparlamentarisches Diskussionsforum für sicherheits- und verteidigungspolitische Themen und begleitet so die Arbeit des Bündnisses. Mitglieder sind insgesamt 269 Parlamentarier:innen aus den 30 NATO-Staaten, zusätzlich nehmen 50 Delegierte aus den assoziierten Staaten an den Beratungen teil. Der Deutsche Bundestag stellt aktuell zwölf Mitglieder der Versammlung, an der Boris Pistorius als Niedersächsischer Innenminister ebenfalls schon mehrfach teilgenommen hat.

Gregor Bauer

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23. Januar 2023