Die Ampel zwischen XXL und Poesie

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Editorial: Die Ampel zwischen XXL und Poesie +++ Meldungen: Kaum ostdeutsche Spitzenbeamtinnen seit der Wende, die Wirkung von NetzDG und emphatischer Gegenrede, neue Kategorie Demo-Inzidenz und die besten investigativen Recherchen 2021 +++ Wahltrend: „Andere“ im Aufwind +++ Buch: Michel Houellebecq: Vernichten +++ Tweet des Jahres: Verrutschter Bewertungsmaßstab +++ Jobs: Junior-Berater:in (Köster-Kommunikation), Senior Projekt Manager:in (BayWa re.), Wissenschaftliche:r Referent:in (Verein Geschäftsstelle Qualitätsausschuss Pflege), u.a. +++ Events: „Germany’s new foreign policy“ (European Policy Centre), „Die Taiwan-Frage“ (Friedrich-Ebert-Stiftung), „Activating Attention – Political Videos on Social Media“ (Videoactivism), u.a. +++ Stakeholder des Jahres: Global Investigative Journalism Network

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Liebe Leserin, lieber Leser,

die Ampel ist die größte Bundesregierung aller Zeiten. Die Neukoalitionäre haben bei den Staatssekretär:innen schon einen neuen Rekord aufgestellt. Nun kommen noch einmal knapp 150 neue Stellen auf der höchsten Besoldungsstufe dazu (davon übrigens fast alle aus Westdeutschland, siehe politticker). Für das Handelsblatt beleuchten Martin Greive und Jan Hildebrand die Zuwächse der XXL-Ampel. Allein in den Leitungsstäben der Ministerien wuchs die Zahl der Beamt:innen in den letzten acht Jahren um stolze 30 %.

In der letzten Legislaturperiode kostete allein die Besoldung der Spitzenkräfte 40 Millionen Euro pro Jahr. Auch der neue Rekord-Bundestag führte zu einer Kostenexplosion: Der jährliche Gesamtetat des Parlaments stieg auf 1,1 Milliarden, 2020 lag er bei 939 Millionen, 2010 noch bei 663 Millionen. Die Vorstellung, dass ein immer komplexerer Politikbetrieb, der mit vielen Krisen und Herausforderungen gleichzeitig umgehen muss, mit der Personaldecke der 80er Jahre bewältigt werden kann, ist naiv. Allerdings neigen Verwaltungsapparate oftmals zur Selbstbeschäftigung und Ineffizienz, die Frage der Verhältnismäßigkeit darf also nie aus dem Fokus geraten.

bundesministerien

Besonders viele Personalwechsel gab es auf Minister:innen-Ebene. Der SPIEGEL hat zusammengefasst, welche Vorlieben die neue Führungsriege bei der Einrichtung ihrer Amtsstuben hat, aber auch welche Kuriositäten von den Vorgänger:innen überliefert sind. Aufgrund der Brisanz zwischen Paprika-Allergie, betrunkenen Staatssekretären und Piccolo-Fläschchen aber hinter der Paywall.

Nicht nur das Personal wechselt, auch manch eine Ressortbezeichnung. Aus dem BMVI wird das BMDV, aus dem BMU das BMUV, aus dem BMWi das BMWK. Der letzte Satz scheint Ihnen mehr Buchstabensalat als alles andere? Damit Sie den Überblick behalten, haben wir die Abkürzungen aller Bundesministerien in einem Spickzettel aufbereitet. Nicht zuletzt mussten dadurch auch Domainnamen geändert werden. Für läppische 820 Euro kaufte das Habeck-Haus bmwk.de, Kollegin Lemke musste für bmuv.de über 2.000 Euro hinlegen, wie der Tagesspiegel herausfand. Das Bundesfinanzministerium (www.bundesfinanzministerium.de) muss aber beispielsweise weiterhin den Kürzeren gegenüber der Bürener Maschinenfabrik (www.bmf.de) ziehen.

Eine weitere Personalie brachte Katrin Göring-Eckardt ins Gespräch. Eine Parlamentspoetin soll es nach Vorschlag von Schriftsteller:innen geben. Die Grüne Bundestagsvizepräsidentin fand die Idee gut. Ein Fall wie gemacht für hochtemperierte Twitter-Empörungen. „Völlig sinnlos“ war noch eine der netteren Reaktionen. In der Anglosphäre ist das Prinzip des Poet Laureate längst Teil der politischen Kultur, man mag sich an den packenden Auftritt der Lyrikerin Armanda Gorman bei der Amtseinführung Bidens erinnern. Als erster Hofdichter wurde übrigens der Augustinermönch Bernard André im frühen sechzehnten Jahrhundert ernannt. Also eine späte Adaption eines Commonwealth-Brauchtums zwischen Erweiterung der politischen Kultur und Politkitsch? Warum es aber in der Sache über das grundsätzliche Verhältnis von „Macht und Geist“ geht, hat Carolin Amlinger in der ZEIT erklärt.

Gemeinhin eher unkitschig ist das Parlamentarische Kontrollgremium. Gerade deshalb gestaltet sich die Besetzung der Geheimdienst-Überwacher:innen aber schwierig. Dass ein Sozialdemokrat gleich drei Geheimdienste aus SPD-Häusern überwachen soll, leuchtet Grünen und FDP nicht ganz ein. Normalerweise hat die größte Fraktion aber erstes Zugriffsrecht. Ulrich Grötsch (SPD), bisher einfaches Gremiumsmitglied, wäre damit die natürliche Wahl. Aber mit dem Kanzleramt (BND), dem Innenressort (Verfassungsschutz) und dem Verteidigungsministerium (MAD) wäre die Aufsicht der wichtigsten Geheimdienste ganz in Genoss:innen-Hand. Die für Donnerstag angesetzte Wahl wurde also – ohne Erklärung – als Tagesordnungspunkt kurzfristig gestrichen. Felix Hackenbruch hat die Hintergründe beim Tagesspiegel notiert.

In der ersten Regierungsbefragung hat Bundeskanzler Olaf Scholz mit angriffslustigen, kontroversen, aber auch offen populistischen Aussagen für Aufsehen gesorgt. Hat er natürlich nicht. Wie auch Angela Merkel oder die meisten Vertreter:innen der deutschen Spitzenpolitik es nicht würden. Warum die relative Drögheit des deutschen Politikbetriebs viel Gutes hat, hat der sonst der Überspitzung nicht abgeneigte Nikolaus Blome in seinem „Lob des Lauen“ aufgeschrieben. Wie sich Olaf Scholz wirklich in seiner Befragungs-Premiere als Kanzler geschlagen hat, lesen Sie im ausführlichen Liveblog der Süddeutschen Zeitung. Und warum der Bundestag noch immer die beste politische Agora das Landes ist, hat Stephan-Andreas Casdorff für den Tagesspiegel beleuchtet.

 

Mit den besten Grüßen zum Wochenstart
Philipp Sälhoff
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Ostdeutsche Repräsentanz: Kaum ostdeutsche Spitzenbeamt:innen

Unter den Spitzenbeamt:innen der Bundesrepublik finden sich seit der Wiedervereinigung kaum ostdeutsche Biographien. Das geht aus einer Untersuchung der Universität Kassel hervor. Seit 1990 sind durchgehend nur rund 1 % der beamteten Staatssekretär:innen und Abteilungsleiter:innen „ostdeutsch sozialisiert“. Unter Merkel III erhöhte sich der Anteil auf 1,9 %. In der politischen Elite, also Bundeskanzler:innen, Bundesminister:innen und Parlamentarische Staatssekretär:innen, stellten Ostdeutsche zwischen 7,7 % (1987-1991, Kohl III) und 15,9 % (2002-2005, Schröder II). Im ersten Kabinett Scholz haben etwa 9 % der Spitzenpolitiker:innen eine ostdeutsche Sozialisierung.

Online-Hass I: NetzDG reduziert Hass im Netz

Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) zur Regulierung von Sozialen Medien soll seit seiner Einführung 2017 eine deutliche Reduktion von Online-Hass erwirkt haben, so eine Studie des Leibniz-Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW). Demnach sind durch das Gesetz etwa 10 % weniger Hasskommentare auf Twitter erschienen. Auch die „Hassintensität“ der Kommentare von 200.000 untersuchten AfD-nahen Accounts hat sich im Vergleich zur österreichischen Kontrollgruppe (FPÖ-Accounts) deutlich verringert. Seit 2017 ist die Anzahl der „massiv toxischen“ Tweets um 8 % gefallen, solche mit „Angriffen auf die Identität“ um 11 %.

Online-Hass II: Empathische Gegenrede wirkt gegen Rassismus im Netz

Rassistische Hassrede kann durch das Instrument der Gegenrede tatsächlich reduziert werden. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie der Stanford University. Die Autor:innen betonen allerdings, dass die Wirksamkeit lediglich unter Einbezug empathischer Argumentation gegeben ist. Zwei Versuche, bei denen Bots die rassistisch Kommentierenden zunächst darauf aufmerksam machten, dass „der Post auch von Personen gesehen wird, die dir wichtig sind“ und in einem zweiten Schritt durch die Verwendung von Memes humoristisch antworteten, schlugen fehl. Erst als die Bots auf die potenzielle Verletzung des Opfers aufmerksam machten, reduzierte sich die Anzahl weiterer rassistischer Kommentare.

Demo-Inzidenz: Mecklenburg-Vorpommern protestierte am häufigsten

Die ostdeutsche Print-Ausgabe der ZEIT hat eine neue Inzidenz-Kategorie entwickelt: Die Demo-Inzidenz. Für die besonders protestreichen Tage vom 18. bis 20. Dezember errechnete die Redaktion für jedes Bundesland, wie viele Protestierende pro 100.000 Einwohner:innen auf die Straße gingen. Spitzenreiter war Mecklenburg-Vorpommern mit einem Demo-Inzidenzwert von 1.366, dicht gefolgt von Brandenburg (1.114). Ungewöhnlich ruhig zeigte sich die Hauptstadt mit lediglich 26 Demonstrierenden pro 100.000.

Investigativer Journalismus: Die besten Recherchen 2021

Das Global Investigative Journalism Network hat die zehn besten deutschsprachigen Investigativ-Recherchen 2021 gekürt. Unter anderem findet das Team des Rechercheverbunds von NDR, WDR und Süddeutscher Zeitung Erwähnung für die Veröffentlichung der Maskendeal-SMS zwischen Jens Spahn, Monika Hohlmeier und Melanie Huml in „Schützt Dich und mich. Lg Jens“. Mit der Doku „Auf der Spur des Geldes“ (AfD-Spendenskandal und CumEx) findet sich auch das Investigativ-Team von CORRECTIV auf der Liste, genau wie die Recherche über Ex-BILD-Chef Julian Reichelt oder die Gerichtsprozesse um den VW-Abgasskandal.

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Nachruf: David Sassoli
“David Sassoli liebte die Gartenarbeit, und in einem Interview hatte er sich einmal selbstironisch als “Langweiler” bezeichnet – weil er gerne klassische Musik höre und Bücher über die Geschichte der alten Römer lese.” ( Ein Nachruf vom RND)

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Der pollytix-Wahltrend und Koalitionscheck zur Bundestagswahl 2021, Vorwochenvergleich in gefärbten Zahlen. Die Angaben berechnen sich aus dem gerichteten Mittel aller Bundestagswahlumfragen der letzten 20 Tage. Den kompletten Wahltrend, einen Koalitionsrechner und alle Einzelumfragen finden Sie hier, mehr zur Methodologie hier.

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Michel Houellebecq ist sicherlich einer der bekanntesten – und auch umstrittensten – europäischen Autoren unserer Zeit, der gern Frankreichs Politik und Gesellschaft literarisch kommentiert (z.B. im viel diskutierten Roman “Unterwerfung”). Auch sein aktuelles Buch “Vernichten” wagt sich auf dieses Feld und bietet eine Mischung aus Politthriller, Familiengeschichte und Beziehungsdrama. Der Roman spielt vor dem Hintergrund der französischen Präsidentschaftswahlen im Jahr 2027 und thematisiert in einer düsteren Vision unter anderem die Überlebensfähigkeit der Demokratie, digitalen Terror und soziale Missstände – aber auch die Liebe. Überraschenderweise kommt dies bei den Kritiker:innen im deutschen Feuilleton fast ausnahmslos gut an.

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Die Posse um den ungeimpften Tennisspieler und Weltranglistenersten Novak Djokovic und sein Einreisebegehren nach Australien anlässlich der Australian Open hat die Welt fast zwei Wochen beschäftigt. In Deutschland war die Aufregung in einschlägigen Kreisen groß, als sein Visum schließlich endgültig annulliert wurde. Influencerin Marie von den Benken hat den verrutschten Bewertungsmaßstab wieder zurechtgerückt.

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Job der Woche

Du hast Freude am Verfassen von Texten und kennst Dich mit Social Media aus? Köster Kommunikation sucht ab März eine:n Juniorberater:in (m/w/d) in Berlin. Zu Deinen Aufgaben gehören das Erstellen von Content und Publikationen sowie die Entwicklung und Umsetzung von Social-Media-Strategien für den Onlineauftritt des Unternehmens. Voraussetzungen für die Stelle sind ein abgeschlossenes Hochschulstudium, sehr gute Englischkenntnisse und erste Erfahrungen in den Bereichen Politik und Presse oder Öffentlichkeitsarbeit.

Fellowship der Woche

Turkey Europe Future Forum

The rapid rise of China is transforming the geopolitical landscape into a bipolar system in which the United States and China compete for supremacy. The Turkey-Europe Future Forum (TEFF), a project of Stiftung Mercator in cooperation with TÜSİAD, will address the challenges and opportunities that this may pose for Turkish-European relations from June 26 to July 02 in Berlin.

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Das Global Investigative Journalism Network ist eine internationale Vereinigung von gemeinnützigen Organisationen, die investigativen Journalismus unterstützen, fördern und produzieren. Seit 2003 besteht die Hauptaufgabe des GIJN in der Unterstützung des investigativen Journalismus auf der ganzen Welt. Heute verfügt das Global Investigative Journalism Network über 227 Mitgliedsgruppen in 88 Ländern. Im Jahr 2014 wurde das GIJN als gemeinnützige Gesellschaft im Bundesstaat Maryland eingetragen.

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17. Januar 2022