Schweizer Wahlen 2019 – Die Frauen- und Klimawahl

[ von Dr. Louis Perron ]

Man muss beim dominanten Thema dominieren. Dieser Campaigning-Grundsatz erklärt einen guten Teil der Schweizer Parlamentswahlen vom vorletzten Wochenende. Das absolut dominante Thema während dem ganzen Wahljahr war die Klimakrise und so erzielten die Grünen einen historischen Erfolg (+6.3%). Das Wort historisch ist ausnahmsweise berechtigt. Die Grünen gewannen im Parlament [1] 17 Sitze– der grösste Sprung nach vorne, seit das Proporzsystem bei Wahlen zur Anwendung kommt. Was ich im Ausland schon eine Weile erlebe, gilt nun definitiv auch in der Schweiz: die Wählerschaft wird volatiler. Kaum eine Partei mehr kann massgeblich auf eine loyale Stammwählerschaft zählen. Wir sollten uns daran gewöhnen, dass das «agenda setting» zunehmend internationalen und grenzübergreifenden Charakter hat.

In der Schweiz gibt es neben der klar linken Grünen die sogenannte Grünliberale Partei, die in der bürgerlichen Mitte politisiert. Auch sie legte kräftig zu (+3.2%, +9 Sitze). Der Zuwachs der beiden grünen Parteien ging zum Teil auf Kosten der Sozialdemokraten (-2%, -4 Sitze). Sozis und Grüne fischen seit jeher teilweise im gleichen Teich. Das thematische Umfeld und der Makrotrend waren für die Genossen schwierig – und das ist bei Parlamentswahlen in der Schweiz (mehr als) die halbe Miete. Im Frühling fand der sogenannte Frauenstreik statt: Hunderttausende demonstrierten in den Strassen für mehr Gleichstellung zwischen den Geschlechtern. Für die SP war der Frauenstreik, der immerhin durch den Gewerkschaftsbund initiiert wurde, eine verpasste Chance. Das neue Parlament wird mit einem Frauenanteil von über 40% markant weiblicher, doch die SP konnte offenbar nicht vom Frauenstreik profitieren. Sie hätte wesentlich mehr «ownership» beanspruchen müssen.

Die rechtspopulistische Schweizerische Volkspartei SVP bleibt mit Abstand die stärkste Partei. Sie verlor aber deutlich (-3.8%, -12 Sitze). Wenn es in der Vergangenheit eine Partei gab, die im Wahlkampf kämpfen konnte, dann war das die SVP. Dieses Jahr ist sie nie ganz auf Touren gekommen. Normalerweise punktete die SVP mit den Themen Zuwanderung und Europa bei der eigenen Basis. Beide Themen spielten dieses Jahr im Wahlkampf kaum eine Rolle.

Zu den Verlierern gehört auch die FDP (-1.3%, -4 Sitze). Die christdemokratische CVP (-0.2%, -3 Sitze) verlor weniger als im Vorfeld angenommen. Am Wahlsonntag fühlte sie sich deshalb wie eine Siegerin.

Die Schweiz hat ein eigenartiges Regierungssystem. Wir nennen es Konkordanz, was so viel bedeutet wie: die Macht soll geteilt werden. Es gibt also nicht Regierung und Opposition wie in Deutschland und in den meisten europäischen Ländern. Die Regierung (bei uns der Bundesrat genannt) besteht aus sieben Mitgliedern. Die sieben sollen als Kollegium und im Kompromiss regieren. Eine Bundesrätin oder ein Bundesrat ist von der Funktion her zwischen einer deutschen Bundeskanzlerin und einem Minister. Die grossen Parteien teilen sich die sieben Sitze auf und berücksichtigen dabei die verschiedenen sprachlichen und regionalen Landesteile. Am 11. Dezember dieses Jahres wählt das neue Parlament den Bundesrat für die nächsten vier Jahre. [2] Soweit heute bekannt ist, treten alle bisherigen Mitglieder an. Genau da liegt das Problem: Der jetzige Bundesrat entspricht den neuen Verhältnissen im Parlament eher ungenügend. Denn die Grünen waren bis jetzt nicht im Bundesrat vertreten. Würden sich die beiden grünen Parteien annähern, wären sie die zweitgrösste Kraft im Parlament und hätten Anspruch auf einen Sitz in der Regierung.

Die sieben Sitze werden nach der sogenannten «Zauberformel» aufgeteilt. Diese hat wenig mit Magie, sondern vielmehr mit Macht zu tun. Bisher wurden die Sitze wie folgt verteilt: Zwei Regierungssitze für die SVP, zwei für die SP, zwei für die FDP und einen für die christdemokratische CVP. Die Zauberformel steht aber nicht in der Verfassung und ist kein Gesetz. Es ist eigentlich nichts anderes als eine Absprache unter den grossen Parteien, die jederzeit geändert werden kann. Genau das ist die Frage im Hinblick auf den 11. Dezember. Die Grünen sind derart vom eigenen Resultat überrumpelt, dass sie ihren Regierungsanspruch bis jetzt nur zögerlich anmelden. Es gibt sicher auch in ihren Reihen valable Kandidatinnen und Kandidaten. Es drängt sich bis jetzt aber keine und keiner auf. Die anderen Parteien sind damit beschäftigt, Gründe zu finden, warum man vorerst mal noch nichts an der Zusammensetzung der Regierung ändern sollte. Sollte sich etwas ändern, wäre das realistischste Szenario, dass ein neuer grüner Bundesratssitz auf Kosten der FDP ginge. Für ein solches Planspiel sind die Christdemokraten die Königsmacher. Sie müssten mit der links-grünen Seite zusammenspannen. Es kam in der Vergangenheit schon zu Überraschungen bei Bundesratswahlen. Man nennt deshalb die Nacht vor den Bundesratswahlen auch die «Nacht der langen Messer». Politikerinnen und Politiker treffen sich in diversen Restaurants und Bars der Hauptstadt Bern. Ob es wirklich dazu kommt oder ob alles gewohnt schweizerisch in ruhigen Bahnen verlaufen wird? «Affaire à suivre», wie man im französischsprachigen Teil der Schweiz sagen würde.


[1] Die Schweiz ist ein Zweikammersystem. Der Nationalrat ist die Vertretung des Volkes und besteht aus 200 Mitgliedern, welche nach Proporz gewählt werden. Der Ständerat ist die Vertretung der Kantone und wird ebenfalls direkt von der Bevölkerung gewählt. Ähnlich wie der U.S.-amerikanische Senat schickt jeder Kanton zwei Vertreter in den Ständerat. Der Einfachheit halber fokussiert dieser Artikel auf den Nationalrat.

[2] Der Bundesrat wird gewählt von der sogenannten vereinigten Bundesversammlung: National- und Ständerat zusammen. In den Bundesrat gewählt ist, wer in der vereinigten Bundesversammlung eine absolute Mehrheit erzielt.


über den Autor


Dr. Louis Perron ist Politikwissenschaftler und Politberater aus Zürich in der Schweiz. Er berät Parteien, Firmen und Verbände im In- und Ausland. Er bloggt auf www.campaignanalysis.com und twittert @dr_perron.

11. November 2019