Die Zeitenwende in der Kommunikationskrise

Editorial: Die Zeitenwende in der Kommunikationskrise +++ Meldungen: Institutionelles Vertrauen im Westen gewinnt, AfD-Filmvorführung “Volksvertreter”, Diskussionskultur in der Kommunalpolitik, Russland ist Fake News Superspreader, Wahlwiederholung in Berliner Wahlkreisen, u.a. +++ Wahltrend: Union zieht der SPD davon +++ Buch: Nachts im Kanzleramt +++ Tweet: Vielleicht morgen +++ Jobs: Public Affairs Networker:in (Zukunft Gas), Fellowship (Academy of International Affairs) +++ Events: Wie gelingt die Kommunikation mit der Generation TikTok? +++ Stakeholder: Zentralkomitee der deutschen Katholiken

Liebe Leserin, lieber Leser,

Im Kontext der Rede (Transkript) ist der Abschnitt durchaus verständlich, Scholz beantwortet die Fragen sogar sehr klar. Für sich genommen provoziert der Part aber geradezu Missverständnisse. Nun kann es immer mal passieren, dass man einen ungünstigen Passus zitiert – wenngleich eine Frage von Krieg und Frieden der denkbar schlechteste Moment dafür ist. Diese Passage dann aber auch noch zu übersetzen und über den Account der deutschen NATO-Vertretung zu verbreiten, damit es auch wirklich alle internationalen Partner mitbekommen, hinterlässt dann doch ratlos. Verbündete und Beobachtende zeigten sich dann auch entsprechend irritiert. Der Tweet schaffte es sogar bis zu den Ukraine Meme Forces, was als zweifelhafte Ehre zu verstehen ist.

• Scholz‘ Auftritt und Rede beim Katholikentag selbst hat Georg Ismar erlebt und beschreibt einen ungewohnt offenen Kanzler.
• Auf der anderen Seite sorgte seine Reaktion auf den Zwischenruf eines Klimaaktivisten, den er mit einem fragwürdigen historischen Vergleich bedachte, für Aufsehen.
• Der Bundeskanzler sei daran Schuld, dass in Osteuropa das Bild des “hässlichen Deutschen” wieder kursiert, argumentiert Eric Gujer für die NZZ.
• Wiederum Georg Ismar meint im Tagesspiegel, dass die Kritik am Kanzler teils überzogen ist und weiß, was Scholz jetzt tun muss, um das kommunikative Ruder noch einmal herum zu reißen.

Die Kommunikation der Bundesregierung bzw. ihres sozialdemokratischen Teils in Sachen Ukraine-Krieg ist derzeit latent unglücklich. Gerade in einer Zeit, in der die erklärende Art seines Wirtschaftsministers viel Beifall erfährt, fährt Scholz das Gegenmodell. Eine Analyse der Kanzlerkommunikation mit Verbesserungsvorschlägen hat Linus Lüring für den BR zusammengestellt.

Optimierungsbedürftig scheinen auch die Lieferungen deutscher Waffen an die Ukraine zu laufen (siehe Tweet der Woche). Denn wie die WELT (€) in einem Exklusiv-Bericht recherchiert hat, wurden selbst die Lieferungen leichter Waffen auf ein Minimum zurückgefahren, von schweren ganz zu schweigen. Was kleine, leichte und schwere Waffen überhaupt sind, hat Viviane Spielvogel für den FOCUS zusammengetragen. Bei den Fraktionen der Grünen und der FDP steigt derweil der Unmut über die zögerliche Umsetzung der Bundestagsbeschlüsse zu den Waffenlieferungen, in der SPD-Fraktion wird das mitunter anders gesehen, wie Christine Dankbar für die Berliner Zeitung berichtet.

Eine unverhoffte Erklärung für den zögerlichen Ablauf hatte Siemtje Möller, Staatssekretärin im Verteidigungsministerium, parat. Eine “Absprache” unter NATO-Staaten besage, dass man “keine Schützen- und Kampfpanzer westlicher Bauart” an die Ukraine liefere. Nur wurde das umgehend dementiert. Nicht nur von NATO-Partnern, auch im Auswärtigen Amt wusste man nicht, wovon die Kollegin sprach, wie das ZDF aus Korrespondenzen zwischen Amt und Grünen-Fraktion erfuhr. Auch ihre eigene Parteichefin widersprach der Darstellung im ZDF-Interview.

Es bleibt der Eindruck, dass die vermeintliche Absprache eine Ausrede war. Und auch wenn dem nicht so ist: Allein, dass dieser im In- und Ausland entstehen konnte, ist symptomatisch für die derzeitige widersprüchliche und intransparente Kommunikation, die gerade mit Blick auf die Bündnispartner fahrlässig ist. Umso mehr, da der Begriff der “Zeitenwende” längst von ihnen aufgegriffen worden ist und Hoffnungen auf ein neues deutsches außen- und sicherheitspolitisches Selbstverständnis geweckt hat. Hoffnungen, die gerade enttäuscht werden.

Klar ist auch: Natürlich kann und darf in Kriegszeiten nicht alles, was besprochen und geplant wird, kommuniziert werden. Aber wenn kommuniziert wird, sollte es konsistent sein, geht es doch um das Vertrauen von Verbündeten und die Abschreckung von Aggressoren.

Dass Scholz auch anders kann, zeigte er bei seinem Besuch in Südafrika, als Präsident Ramaphosa ihn im Kontext des russischen Angriffs auf die Ukraine falsch zitierte. Vor laufenden Kameras berichtigte der Bundeskanzler seinen Gesprächspartner unmissverständlich, wie Kristina Dunz für das RND berichtet (Video).

Mit den besten Grüßen zum Wochenstart

Philipp Sälhoff

Gesellschaft: Institutionelles Vertrauen im Westen gewinnt

Das Vertrauen in Institutionen ist im politischen Westen seit Jahresbeginn erheblich gewachsen. Das geht aus dem neuesten Edelman Special Report hervor. Demnach verzeichnen vor allem das Vereinigte Königreich (+6), die USA (+6) und Deutschland (+4) die höchsten Zuwächse. Zwar geben Chines:innen noch immer die positivsten Bewertungen für ihre Institutionen mit durchschnittlich 80 von 100 Skalenpunkten, aber das Land zeigt mit – 3 Punkten die größten Verluste unter den untersuchten Staaten.

Parteien: Filmvorführung “Volksvertreter” – Backstage bei der AfD

Das Kino Babylon in Berlin zeigt in dieser Woche die AfD-Dokumentation Volksvertreter. Über drei Jahre begleitet der Film vier Bundestagspolitiker der Rechtsaußen-Partei im Parlament und ihren Wahlkreisen. Dabei werden die MdBs dabei gefilmt, wie sie Strategien schmieden, Texte verfassen oder am Stammtisch mit Bürger:innen diskutieren. Am vergangenen Freitag wurde die Premiere in Anwesenheit des Regisseurs aufgeführt. Für den heutigen Abend, Dienstag und Mittwoch können Interessierte noch Tickets buchen. (Rezension des SPIEGEL)

Demokratie: Kommunalpolitik wird rauer

In der Kommunalpolitik wird das Klima rauer. Das zeigt eine qualitative Studie der Meinungsforschungsagentur Pollytix und der Körber-Stiftung. Häufig nennen die befragten und meist ehrenamtlichen Ratsmitglieder den Eintritt der AfD in die kommunalen Parlamente als Grund: Eine Zunahme bewussten Störens der Sitzungen und Polarisierung seien die Folgen, insbesondere in Ostdeutschland. Auch ein wachsender Fokus auf die Themen Migration und Klima wirke spaltend, so die Befragten.

Social Media: Russland ist größter Verbreiter von Desinformation weltweit

Russische staatliche Akteure sind die größten Verbreiter von Falschinformationen unter allen ihren Amtskolleg:innen weltweit. Das Australian Strategic Policy Institute (ASPI) analysierte Tweets gesperrter Accounts zwischen 2018 und März 2021, um die Herkunft von Desinformationen zu untersuchen. Russland belegt dabei den ersten Platz der Superspreader, mit einem Fokus von Desinformationen über die USA, die Ukraine und die NATO sowie Diffamierungen US-amerikanischer und europäischer Kandidat:innen bei Wahlen. Iran, Saudi-Arabien und China belegten die Plätze 2 bis 4.

Parlamente: Berliner Wahlkreise sollen Bundestagswahlen wiederholen

Der Bundeswahlleiter Georg Thiel fordert eine Wahlwiederholung in sechs von 12 Berliner Wahlkreisen. Dort sei ein “komplettes systematisches Versagen” festgestellt worden, so Thiel. Am Dienstag beantragte er die Wiederholung während einer Anhörung des Wahlprüfungsausschusses des Bundestages. Er monierte insbesondere, dass Wahllokale zum Teil noch bis 21 Uhr offen gewesen seien, während “im Fernsehen schon die Elefantenrunde saß”. Vor der Sommerpause ist nicht mit einer Entscheidung zu rechnen.

Ukraine & Russland

• Kriegsverlauf: Ukrainischen Truppen droht Einkesselung im Donbass
• Russland: Russischer Diplomat tritt wegen Ukraine-Kriegs zurück & Heinrich-Böll-Stiftung als “unerwünschte Organisation” eingestuft
• Kriegsverbrecherprozess: Lebenslange Haft für russischen Soldaten
• Sanktionen: Russlands Polster reichen für längeren Krieg & Erste EU-Bilanz – Zehn Milliarden Euro russisches Oligarchen-Vermögen eingefroren

Parteien und Parlamente

• AfD: Berufung gegen Verfassungsschutz-Urteil – Partei sieht sich nicht als rechtsextremen Verdachtsfall
  
• Die Grünen: Jägermeister-Erbe spendet mehr als 75.000 Euro
  
• Die Linke: Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow übt vehemente Kritik an eigener Partei
• CDU: Neues Grundsatzprogramm: Klima, Diversität – und das C
• Schwarz-Grün: CDU und Grüne legen Eckpunkte für mögliche NRW-Koalition fest & einigen sich in Schleswig-Holstein auf Fahrplan zur Regierungsbildung
  
• Bundestag: Warum die Wahlrechtsreform nicht vorankommt & Ampel-Bündnis: Ernüchterung statt Euphorie
  
• Partizipation: Wie funktioniert der Petitionsausschuss?

Ministerien und Behörden

Demokratie und Gesellschaft

• Baden-Württemberg: Gesellschaftlicher Zusammenhalt laut Studie in der Pandemie deutlich zurückgegangen
  
• Verfolgung von Hasskommentaren im Netz: ZDF Magazin Royale deckt Missstände bei Ermittlungsbehörden auf
  
• Karlspreis-Verleihung: Baerbock und Steinmeier würdigen drei Belarussinnen als “mutigste Frauen Europas”
  
• Anti-Corona-Proteste: Wie gefühlte Opfer die Demokratie bedrohen
  
• Antisemitismus: Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Hessen hat Arbeit aufgenommen

Lobbyismus und Interessenvertretung

• Europäische Union: Aufsichtsbehörde fordert, EU-Personal soll nicht sofort in Privatwirtschaft wechseln
• Gerhard Schröder: Altkanzler will nicht in Gazprom-Aufsichtsrat
• Ranking: Umsatz-Ranking der Public-Affairs-Agenturen
• Job-Einblick: Was macht eigentlich ein Account Director?
• Recherche: Über kostenspielige Lobbyarbeit bei der Parlamentarischen Gesellschaft – Das Klubhaus

Personalien

Politische Kommunikation

Social Media

Podcast

• Neues Format: Podcast zum Digitalführerschein vom Verein Deutschland sicher im Netz