Liebe Leserin, lieber Leser,
die Linke steht seit Jahren vor einem paradoxen Problem: Die identitätsstiftenden Themen (Inflation, Ungleichheit, Pflegenotstand, Bankenkrise etc.) werden ihr auf dem Silbertablett serviert, doch sie verharrt im demoskopischen Niemandsland an der Klippe zur politischen Bedeutungslosigkeit (siehe Wahltrend). Nun könnte sich die selbsternannte Friedenspartei im Angesicht des Ukrainekriegs außen- und sicherheitspolitisch neu erfinden. Dass das nicht stattfinden wird, ist seit geraumer Zeit klar. Die Nominierung von Sahra Wagenknecht als Rednerin für die Generaldebatte war noch mal ein besonders deutliches Statement.
Dass Wagenknecht – vorsichtig formuliert – kontroverse Positionen mit Blick auf den Ukraine-Krieg vertritt, ist keine Neuigkeit. Sie sprach aber in der Vergangenheit nur für einen kleinen, aber lauten Teil der Partei. Das änderte sich, als sie im Rahmen der Haushaltsdebatte im Bundestag offiziell für ihre Fraktion zu diesem Thema am Redepult stand und der Bundesregierung vorwarf, „einen beispiellosen Wirtschaftskrieg vom Zaun zu brechen“. Die Konsequenzen hatten es in sich: Ulrich Schneider, Geschäftsführer des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbands, erklärte anschließend und aufgrund der Rede seinen Parteiaustritt, der profilierte Finanzpolitiker Fabio De Masi zog wenig später nach. In der Fraktion eskalierte der Streit darüber, warum Wagenknecht ohne hinreichende fachpolitische Expertise überhaupt reden durfte. Daraufhin schaltete sich Partei-Co-Chef Martin Schirdewan ein und kritisierte die Fraktionsspitze, die dafür sorgen müsse, dass sich solche Reden nicht wiederholten, einzelne Abgeordnete würden der Partei schaden.
Es wäre Aufgabe der Fraktionsspitze, für Ruhe zu sorgen. Aber das tut sie nicht, vielleicht auch in dem Wissen, was es für Konsequenzen haben könnte, schmisse Wagenknecht hin. Ein Austritt Wagenknechts und einiger ihrer Verbündeter würde dafür sorgen, dass die Linke ihren Fraktionsstatus verlöre, da diese nur durch Direktmandate in den Bundestag einzog. Außerdem ist die ehemalige Fraktionsvorsitzende ungemein beliebt und reichweitenstark (siehe Grafik).
- Oliver Georgi kommentiert in der FAZ, dass die Linke am Ende sei – und zwar selbst dann, wenn es gar keine Causa Wagenknecht gäbe.
- Markus Decker hingegen sieht im RND das linke Parteifiasko eng mit Sahra Wagenknecht verbunden.
- t-online hat seine Leser:innen gefragt, wie sie zu Wagenknecht stehen. Von „Kanzlerin der Herzen” bis „gefährliche Populistin“ war alles dabei.
- Wagenknechts Ex-Mann rief übrigens kürzlich die Absetzung der Bundesregierung aus und erklärte sich zum Chef einer Exilregierung. Das Ganze war ein Deal mit dem Kreml, wie Lars Wienand und Clara Lipkowski recherchiert haben.
Selbst Kevin Kühnert kommt nicht an Wagenknechts Twitter-Follower heran – oder vielmehr: kam nicht heran. Der Generalsekretär der SPD hat seinen Account deaktiviert, nachdem er sich in einem TV-Interview skeptisch gegenüber Kampfpanzerlieferungen an die Ukraine äußerte. Es folgte ein Shitstorm allererster Güte. Der Ex-Juso-Chef sieht die Diskussionskultur und gesellschaftliche (Mis)Repräsentation auf Twitter als eine Gefahr für politische Fehlschlüsse und Irrtümer. Die andere Richtung schlug hingegen SPD-Influencerin Lilly Blaudszun ein, sie hat ihren Account reaktiviert.
- Judith Liere schreibt für die ZEIT über den „wunderbaren Ort“ Twitter, den Kevin Kühnert ihrer Ansicht nach nicht verstanden habe.
- Der Philosoph und Buchautor Christoph Quarch erklärt im SWR, warum Twitter für Politiker:innen generell Tabu sein sollte.
Twitter ist für viele Meinungsführer:innen ein wichtiger Kanal (siehe politticker) und auch für Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach ein wichtiges Kommunikationsmedium. In der vergangenen Woche brachte ihn aber das „real life“ auf die Palme. Die AfD-Abgeordnete Beatrix von Storch soll ihm im Bundestag während einer Rede einen Vogel gezeigt haben, Lauterbach zeigte von Storch daraufhin an. Die wiederum schlug mit einer Anzeige wegen falscher Verdächtigung zurück. Verkündet wurde das – natürlich – auf Twitter. Solche und ähnliche Vorfälle zeigen, wie sehr der Politikbetrieb zusetzen kann. Christiane Rebhan hat für den Business Insider mit Politiker:innen gesprochen, denen der Druck zu groß wurde und die die Notbremse gezogen haben.
Olaf Scholz und Friedrich Merz haben viele Unterschiede, aber manche Gemeinsamkeit. Mit Druck können beide ganz gut umgehen – mit Twitter eher weniger. Um die Sprachlosigkeit zwischen Kanzler und Oppositionsführer zu beenden, wollen die beiden Herren sich nun zum gemeinsamen Dinner im Kanzleramt treffen.
Nicht ganz so elegant fand das Treffen zwischen Geburtstagskind Wolfgang Schäuble und ein paar Sylt-Punkern statt. Was es mit diesem ungewöhnlichen Setting auf sich hatte, lesen Sie hier.
Mit den besten Grüßen zum Wochenstart
Philipp Sälhoff
Die Bundesregierung hat seit August 2021 über Wechselwünsche in die Wirtschaft von vier ehemaligen Bundesminister:innen entschieden. Laut der Antwort auf eine Kleine Anfrage der Fraktion Die Linke baten Peter Altmaier, Helge Braun, Annegret Kramp-Karrenbauer sowie Andreas Scheuer um eine Freigabe. Außerdem wurde bekanntgegeben, welche Kontakte die derzeitige Regierung mit ihnen hatte.
Zwar nutzen nur 29 % der Deutschen mit Internetanschluss Twitter, aber 49 % aller Meinungsbildner:innen wie Publizist:innen, Politiker:innen oder Führungskräfte in der Wirtschaft betreiben einen aktiven Account. Bei Influencer:innen, die ihren Erfolg beispielsweise auf Youtube oder in der Blogosphäre haben, sind es gar 82 %. Das ergab der diesjährige Social-Media-Atlas der Kommunikationsberatung Faktenkontor. Demnach finden sich Meinungbildner:innen auch überproportional auf Berufsplattformen zu 43 %. Andere Menschen nutzen LinkedIn (24 %) und Xing (21…
Die Suchfunktion der Video-Streaming-Plattform TikTok führt systematisch zu Desinformationen. Das geht aus einer Untersuchung von NewsGuard, einer Initiative gegen Desinformationen, hervor. Demnach führt eine Suche oft verwendeter politischer Anfragen wie „Russia Ukraine war“, „school shootings“, „midterm elections“ oder „Covid-19“ zu Ergebnissen, von welchen 19,4 % Desinformationen enthalten. Die Analyse konnte außerdem zeigen, dass TikTok weitaus polarisierendere Ergebnisse listet als Google. So führt die Suche „Covid-19 Impfung“ nicht zu Informationen über verschiedene Vakzine…
Eine aktuelle Fallstudie über die Verbreitung russischer Desinformation skizziert den Informationsfluss über das Verschwörungsnarrativ amerikanischer Biowaffen in der Ukraine bis in den Bundestag. Der Weg führt von gefälschten Dokumenten über Aerosole versprühende Drohnen über die Publikation in einer Kreml-Postille, die deutsche Nachrichtensprecherin Eva Hermann und Russlandpropagandistin Alina Lipp. Zudem wird diese Meldung zur gleichen Zeit im amerikanischen Sender Fox News ausgestrahlt. Kurze Zeit später, am 25. März 2022, spricht AfD-Politiker Steffen…
Mehr als 40 europäische Faktencheck-Organisationen haben sich auf einen gemeinsamen Kodex geeinigt. Darin werden Arbeitsstandards ihrer Methodik, Ethik und Transparenz festgelegt. So ist beispielsweise vorgesehen, dass Fact-Checker:innen Korrekturen bei eigenen Fehlern öffentlich machen müssen. Auch Beschwerde- und Sanktionsmaßnahmen bestimmt der Kodex. Als höchste Strafe ist der Ausschluss aus dem Verband, dem European Fact-Checking Standards Network, vorgesehen. Koordiniert wird die Initiative unter anderem von der deutschen Factchecking-Organisation Correctiv.
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Rowohlt
Die Frontlinie: Warum die Ukraine zum Schauplatz eines neuen Ost-West-Konflikts wurde
In ihrem Abwehrkampf gegen den russischen Angriffskrieg hat die Ukraine zuletzt bemerkenswerte Fortschritte erzielt – auch dank der Unterstützung aus dem Westen. Doch wie konnte es überhaupt dazu kommen, dass die Ukraine zur Frontlinie eines neuen Ost-West-Konflikts wurde? Der Historiker Serhii Plokhy liefert dazu Antworten mit seiner Essaysammlung, in der er die Vorgeschichte des heutigen ukrainisch-russischen Verhältnisses ebenso beleuchtet wie die Beziehungen beider Länder zum Westen. Daraus entsteht ein aufschlussreiches, mehrdimensionales Bild des politischen, kulturellen und militärischen Konflikts in der Ukraine.
Benjamin Triebe
@DerMestermann
Gleich auf TikTok
Fünf Sekunden pures Twitter-Gold, in denen uns Markus Söder mitteilt, „ganz nervös und gespannt“ zu sein, weil er „gleich auf TikTok“ ist. Die Lehre: Wenn es um Politik geht, gewinnt – zumindest noch – Twitter.
Und deswegen küren wir auch den Tweet der Woche. Der geht in dieser Woche an @fraaanie – und an @DerMestermann für die gelungene Zweitverwertung.
Mareile Ihde
Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband
Der 1924 gegründete Wohlfahrtsverband vertritt eigenständige Organisationen, Einrichtungen und Gruppierungen der Wohlfahrtspflege im Bereich der Sozial- und Gesellschaftspolitik. Basierend auf den Werten der Toleranz, Offenheit und Vielfalt setzt sich der Paritätische für die Idee der sozialen Gerechtigkeit ein. Der Verband umfasst über 10.000 Mitgliedsorganisationen bundesweit, unter anderem die Tafel oder SOS Kinderdorf.
Gregor Bauer
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