politnews – Scheindebatte um den “Corona-Maulkorb”

[ Mit Meldungen zu: Nannen-Preisträger stehen fest, Demokratie weltweit auf dem Rückzug, Grüne erstmals über 100.000 Mitglieder, Neuauflage von StudiVZ & PR-Preis während Umsatztief verliehen ]

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“Ich bin immer ganz neidisch auf diejenigen, die schon immer alles gewusst haben”, sagte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn letzte Woche im Bundestag (Videoausschnitt) und forderte mehr Verständnis dafür, dass ein gewisses Maß an Fehlbarkeiten in Zeiten extremer Unsicherheit normal ist. Das hat neben der Neuartigkeit der Lage auch mit der gewichtigeren Rolle der wissenschaftlichen und evidenzbasierten Politikberatung zu tun: Der wissenschaftliche Diskurs ist stärker als der politische an Fehler und Überarbeitungen gewöhnt, handhabt diese routinierter. Neubewertungen der Lage sind für ForscherInnen nicht automatisch ein Schuldeingeständnis, sondern vielmehr eine logische Folge der Entwicklungen. Politik hingegen funktioniert in der Praxis nicht auf diesen rationalen Grundsätzen, sondern muss sich machtpolitischen und kommunikativen Regeln unterwerfen. Diese sind auch während der Coronakrise nicht außer Kraft gesetzt.

Diese Unsicherheiten bringen naturgemäß viel Orientierungsbedarf und somit auch Streit um den richtigen Weg aus der Krise mit sich. Eigentlich ein demokratischer Selbstregulierungsmechanismus erster Güte. Dennoch hat sich eine Art Meta-Diskussion etabliert, wie viel Kritik und Dissens die aktuelle Lage eigentlich “zulasse”. Angela Merkel sah sich gezwungen, ihre Aussage zu den “Öffnungsdiskussionsorgien” zu erklären. Mitnichten wollte sie damit Diskussion unterbinden, aber eine trügerische Sicherheit könne eben Menschenleben kosten. In den letzten Wochen hat sich eine gesellschaftliche Fraktion gebildet, die in den Kontaktsperren vor allem staatliche Willkür und eine Entziehung von Grundrechten sieht. Die Welt-Journalistin Susanne Gaschke fabulierte in der NZZ von “Gleichschaltung”, Jan Fleischhauer – der zusammen mit Jacob Augstein nun auch zum Virus podcastet – unterstellt Merkel im Focus, dass sie nun endlich so regieren wolle, wie sie es schon immer wollte und der Lockdown für sie gern noch etwas länger gehen könnte. Diese entrückte Interpretation setzt sich auf der Straße fort: Auch an diesem Wochenende kamen wieder Hunderte zu den sogenannten “Hygiene-Demos” zusammen. Der RBB mit einem Bericht über eine Querfront der surrealsten Gestalt. Wie die Coronavirus-Epidemie von rechts instrumentalisiert wird, haben wir hier schon öfter thematisiert, die Kontext-Wochenzeitung analysiert nun die Mythen der linken Coronaleugner.

Zu einem ungewöhnlichen Schritt sah sich dann auch die taz gezwungen: Das bekennend linke Blatt ist nun wahrlich nicht für allzu ausufernde Lobgesänge auf die Große Koalition bekannt, in den letzten Wochen haben sich jedoch viele Leserinnen darüber echauffiert, dass das Blatt zu “regierungsnah” geworden sei. Die Redakteure Malte Kreutzfeld und Ulrich Schulte haben sich daher in dem offenen Brief “Mutiert die taz zum Regierungsblatt?” an die eigene LeserInnenschaft gewandt und erklärt, was es mit der “neuen Linie” auf sich hat.

Dabei ist der “Corona-Maulkorb” eine Scheindebatte. Gerade in Krisensituationen braucht Regierungshandeln Kontrolle und Kritik; und die gibt es nach wie vor, gerade auch im Bundestag, wie die kontroverse Debatte am Mittwoch gezeigt hat. Auch die Corona-App, für die nun der dezentrale Ansatz auf Druck von Zivilgesellschaft und Wissenschaft gewählt wurde, ist ein Beispiel für die Kraft von konstruktiver Kritik im Ausnahmezustand.

Ungewohnt scheint dennoch für einige der Umstand zu sein, dass in dieser beispiellosen Situation, die ohne weiteres eine “demokratische Zumutung” ist, wie Merkel sie in ihrer Regierungserklärung genannt hat, größtenteils dann doch meist Pragmatismus vor Profilierung gestellt wird. Das im Großen und Ganzen (von einigen föderalen Extrawürsten mal abgesehen) recht einheitliche Handeln der politischen EntscheidungsträgerInnen weckt bei manchen autoritäre Angstphantasien, Beißreflexe und “Gegen-den-Strom”-Vermarktung statt Kritik und Ideenwettstreit in der Sache.

Auch diese tragen dazu bei, dass die Coronakrise derzeit so gut wie alle anderen politischen Themen überlagert. Von klarsten Alarmsignalen der Klimakrise – der bisherige April hatte nur 3 % (!) des durchschnittlichen Niederschlags – bis hin zu Meldungen, die noch unglaublicher wirken: Der BER ist tatsächlich fertig. Ja, wirklich. Gut, dann lesen Sie halt selbst. Die Süddeutsche Zeitung hat einen Überblick der politischen Fragen erstellt, die an Sichtbarkeit aber nicht an Relevanz verloren haben.

Natürlich gibt es aber auch in der omnipräsenten Pandemie heitere Momentaufnahmen des Politikbetriebs:

  • Wie eröffnet man stilsicher einen Unterwassertunnel aus dem Homeoffice? Auf jeden Fall nicht, ohne die Scherpe zu durchschneiden, wie Knut Arild, der norwegische Verkehrsminister, in der letzten Woche vorgemacht hat.
  • Interviews aus dem Heimbüro bergen Risiken, das zeigte nicht nur der legendäre Nordkorea-Experte Robert Kelly in der BBC, sondern in dieser Woche auch Robert Habeck. Dessen Sohn ist zwar etwas älter als die Sprösslinge des Amerikaners, lässt sich aber ebenso wenig von Live-Interviews des Vaters beeindrucken.
  • Eine andere Art der Videokonferenz-Panne hatte Angela Merkel. Ihre Zuschaltung zur WHO-Pressekonferenz sorgte ebenfalls für Erheiterung – wenngleich nicht bei der Kanzlerin selbst.

Allerdings ist nicht die ganze Welt vom Coronavirus betroffen. Denn zumindest laut offiziellen Angaben haben neben einigen kleineren und Kleinstinselstaaten vier Länder keinen einzigen Coronavirus-Fall zu vermelden. Die Berliner Zeitung mit einem “Lagebericht” aus Nordkorea, Turkmenistan, Tadschikistan und Lesotho.

Wenn Sie sich in den letzten Wochen auch mit der Frage beschäftigt haben, wie diese Isolationsphase unsere Gesellschaft verändern wird, dann laden wir Sie herzlich zur ersten Lockdown Lesson von polisphere und der Initiative Offene Gesellschaft ein. In fünf digitalen Denksprints wollen wir diskutieren, was wir aus dieser Situation mit für “die Welt danach” nehmen können. In der ersten Session am Donnerstag um 17 Uhr, freuen wir uns dabei auf den “Kommentator in Quarantäne“, Robby Hunke, und die streamende Autorin Jasmin Schreiber, auch bekannt als @LaVieVagabonde.

Zum Abschluss ein Blick weg vom Coronavirus und zurück auf einen der zentralsten Protagonisten der politischen Bühne der letzten Jahrzehnte. Der ehemalige Arbeitsminister und das “sozialpolitische Gewissen” der CDU, Norbert Blüm, starb in der Nacht zum Freitag im Alter von 84 Jahren. Unter Helmut Kohl war Blüm, dessen Satz “Die Renten sind sicher” in seiner Brüchigkeit sein politisches Wirken als auch seine Lebenszeit überdauern wird, 16 Jahre lang für Arbeit und Soziales zuständig. Auf sein politisches Wirken blickt Bundestagspräsident Schäuble in der Welt zurück. Die Bundeskanzlerin erinnert in einem emotionalen Instagram-Post an ihren ehemaligen Ministerkollegen im Kabinett Kohl. Norbert Sebastian Blüm hinterlässt nicht nur eine Frau und drei Kinder, sondern auch einen gewaltigen politischen Fußabdruck und viele Anekdoten. An eine Blüm-Story der Extraklasse erinnert sich SZ-Autor Detlef Esslinger (siehe Tweet der Woche).

Mit besten Grüßen zum Wochenstart
Philipp Sälhoff

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  • [ Verfassungsschutz beobachtet Kubitscheks “Institut für Staatspolitik” ]
    Das Bundesamt für Verfassungsschutz hat die rechtsextreme Denkfabrik “Institut für Staatspolitik” von Publizist Götz Kubitschek als Verdachtsfall eingestuft. Die Behörde sieht beim Institut “Anhaltspunkte für Bestrebungen gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung”. Die neue Einstufung gibt dem Verfassungsschutz beispielsweise die Möglichkeit, V-Leute einzusetzen. Kubitschek, der das Institut 2000 mit weiteren neurechten Vordenkern gegründet hatte, unterhält enge Verbindungen zur AfD, insbesondere zu Mitgliedern des ehemaligen “Flügels” um Björn Höcke und ist ebenso mit der Identitären Bewegung gut vernetzt. ➡️ SPIEGEL ONLINE (Meldung)
  • [ Bundesregierung plant keinen Gehaltsverzicht ]
    Die Mitglieder der Bundesregierung werden wegen der Coronakrise nicht auf einen Teil ihres Gehalts verzichten. Regierungen anderer Länder wie Österreich und Neuseeland hatten zuvor genau dies angekündigt. Österreichs Kabinett will jeweils ein Monatsgehalt an ungenannte Hilfsorganisationen spenden, während Jacinda Ardern und ihre MinisterInnen einfach weniger Geld aus der Staatskasse erhalten. In einem Interview hatte vor etwa einer Woche auch Markus Söder einen Gehaltsverzicht deutscher PolitikerInnen ins Spiel gebracht. ➡️ SPIEGEL ONLINE (Meldung) | Youtube (Ardern Gehaltsverzicht)
  • [ Merkel als Heilsbringern, Gates als Feindbild ]
    In einigen US-Medien wird Bundeskanzlerin Merkel für ihr Handling der Coronakrise geradezu frenetisch gelobt. Ein Kolumnist der New York Times schlug sie sogar symbolisch als Vizepräsidentschaftskandidatin für Joe Biden vor. Währenddessen erleidet Milliardär Bill Gates, der aus seiner Bewunderung der Kanzlerin ebenso keinen Hehl macht, das gleiche Schicksal wie vor ihm bereits George Soros. Ihm werden, gerade aus rechten Kreisen, Verschwörungstheorien aller Art angehängt. Dabei warnte Gates bereits seit Jahren vor den Gefahren einer weltweiten Pandemie. ➡️ WELT (Merkelmania) | New York Times (Kommentar) | Tagesschau (Bill Gates)
  • [ Proxy-Voting spaltet den US-Kongress ]
    Im Repräsentantenhaus konnten sich Demokraten und Republikaner bisher nicht darauf einigen, wie Kongressabgeordnete auch dann an Abstimmungen teilnehmen können, wenn sie aus dem Home Office arbeiten. Sprecherin Nancy Pelosi schlug das sogenannte “Proxy Voting” vor, bei dem Abgeordnete ihren KollegInnen die Aufgabe übertragen können, ihre Stimme mit abzugeben. Die republikanische Fraktionsführung lehnte das aber ab. Jetzt soll ein mit Abgeordneten aus beiden Parteien besetztes Gremium eine Lösung erarbeiten. Im Senat sehen VertreterInnen beider Parteien “Proxy Voting” bisher skeptisch. ➡️ Vox (Meldung) | Politico (Meldung)
  • [ PR-Rat untersucht “StoryMachine”-Kampagne zum Heinsberg-Protokoll ]
    Der Deutsche Rat für Public Relations wird die Kommunikationsarbeit der Agentur “StoryMachine” zur sogenannten Heinsberg-Studie untersuchen. Vorgeworfen wird der Agentur von Kai Diekmann, Philipp Jessen und Michael Mronz der Verstoß gegen die Transparenzregeln der Branche. “StoryMachine” hatte die Vorstellung der Heinsberg-Studie kommunikativ begleitet und die Öffentlichkeit dabei – so die Kritik – zunächst im Unklaren darüber gelassen, wer den Auftrag gegeben und bezahlt habe. “StoryMachine” reagierte auf die Vorwürfe über den Medienanwalt Christian Schertz. Er schrieb, Verstöße gegen das Transparenzgebot seien “nicht im Ansatz erkennbar”. ➡️ PR-Journal (Meldung) | Heinsberg-Protokoll (Twitteraccount)


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Blüm, Pinochet, Strauß und die Grünen

Zum Gedenken an Norbert Blüm.

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27. April 2020