politnews – Ein Sturm, der keiner war

[ Mit Meldungen zu: neuer Bundestag-Twitter-Kanal, Social-Media-Baustellen der Fraktionen, „Demokratie in Bewegung“ in der Selbstkritik, prominente Neuzugänge bei den Grünen und Einigung bei der Wahlrechtsreform ]

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Dass Berlin kein ruhiges Wochenende bevorstand, war abzusehen. Knapp 40.000 Menschen aus dem ganzen Bundesgebiet und dem Ausland fanden sich zu groß angekündigten Protesten gegen die „Corona-Politik“ zusammen. Der „buntbraune Mix aus Hass und Happening“, wie der Tagesspiegel seine Analyse der Teilnehmerschaft betitelte, bildet ein Spektrum von ImpfgegnerInnen über ReichsbürgerInnen bis hin zur extremen Rechten ab – und gerade von letzterer Gruppe ging das Gewaltpotenzial bei einer sonst relativ friedlichen Zusammenkunft aus: Vor der russischen Botschaft kam es zu Auseinandersetzungen, unter den Festgenommenen auch Attila Hildmann (siehe Tweet der Woche).

Der traurige Höhepunkt des Wochenendes folgte dann am frühen Samstagabend: Mehrere Hundert DemonstrantInnen überwanden die Absperrungen zum Reichstagsgebäude und drangen bis auf die Eingangsstufen vor, wo sie von nur drei Polizisten aufgehalten wurden. Warum es bei einem schon im Voraus angekündigten „Sturm auf Berlin“ nicht mehr Schutzkräfte vor Ort gab, ist bisher noch Geheimnis der Polizeiführung. Tagesspiegel-Reporter Fabian Löhe hat sich die Menge genau angeschaut, kursierende Videos analysiert und unter anderem einige bekannte Gesichter aus der rechten Szene ausfindig gemacht. Sehr präsent und vor dieser Kulisse umso unerträglicher waren die Reichsflaggen bzw. Reichskriegsflaggen, ein beliebtes Symbol der Rechtsextremen und ReichsbürgerInnen. Katja Belousova erklärt für das ZDF die historische Entwicklung der Flagge, wie sie korrekt bezeichnet wird und in welcher Version sie verboten ist. Wie Falschmeldungen zu übergelaufenen PolizistInnen und einem geheimen Aufenthalt von Donald Trump in der Stadt zum Stürmungsversuch beitrugen, beschreibt Patrick Gensing im Tagesschau-Faktenfinder. Das RND hat die Reaktionen von PolitikerInnen aller Parteien inkl. der AfD gesammelt.

SPD-Fraktionsgeschäftsführer Carsten Schneider fordert nun die Überprüfung einer Sicherheitszone um das Reichstagsgebäude. Solche Bannmeilen gibt es aus Sicherheitsgründen um Gebäude, in denen Verfassungsorgane wie beispielsweise der Bundestag tätig sind. In diesen „befriedeten Bezirken“ sind politische Demonstrationen grundsätzlich untersagt, momentan gilt das Verbot jedoch nur an Sitzungstagen.

Unfreiwillig hat Innensenator Andreas Geisel (SPD) den funktionierenden Rechtsstaat unter Beweis gestellt. Die Berliner Gerichte haben sein Demonstrationsverbot umgehend kassiert, die Kundgebung durfte stattfinden. Rechtswissenschaftler Thomas Fischer gibt im Spiegel eine juristische Facheinordnung der Entscheidungen von Exekutive und Judikative.

Für die gesellschaftspolitische Einordnung der Vorkommnisse lohnt hingegen der Blick auf ein paar Fakten:

  • 87 Prozent der Deutschen finden die Corona-Maßnahmen angemessen oder noch zu schwach (Deutschlandtrend).
  • Vertrauen in das deutsche Krisenmanagement und die Regierung ist nach wie vor hoch (Platz 8 im OECD-Vergleichsranking).
  • Deutschland (9.300 Tote, 250.000 Infizierte) ist im internationalen Vergleich nach wie vor sehr gut durch die Coronakrise gekommen, die auf der ganzen Welt mittlerweile fast 850.000 Todesopfer und über 25 Millionen Infizierte mit nicht absehbaren Folgeschäden zur Folge hatte.

Besonders der letzte Umstand scheint bei vielen dazu geführt zu haben, dass das Präventionsparadoxon eskaliert ist und die Maßnahmen, die das Infektionsgeschehen im Zaum hielten, als Repression wahrgenommen werden. Das gilt zumindest für einen Teil der Protestierenden. Andere nutzten den Anlass geschickt aus, um für ihre extremistischen Anliegen zu mobilisieren.

Kann man erwarten, dass Demo-OrganisatorInnen einen Gesinnungstest unter ihren Teilnehmenden durchführen? Nein. Kann man erwarten, dass es Abgrenzung und Distanzierung gibt, wenn für die gemeinsame Sache von der extremen Rechten mobilisiert wird, bevor Szenen wie am Wochenende geschehen? Ja. Die sehr gut organisierten rechten Netzwerke waren schon seit jeher ausnehmend gut darin, sich andere Themen zu eigen zu machen, um Stärke zu demonstrieren und neue Allianzen zu schmieden. Das kann man nicht nur wissen, man muss es.

Während manche ihr von der Verfassung verbrieftes Grundrecht auf Versammlungsfreiheit in der vermeintlichen „Merkel-Diktatur“ ausübten, riskierten andere am Wochenende ihr Leben in einer tatsächlichen Diktatur: In Minsk gehen seit Wochen Tausende Menschen gegen Diktator Alexander Lukaschenka auf die Straße. Der Spiegel beleuchtet die besondere Rolle von Frauen in den Protesten der letzten  Tage. The Atlantic analysiert, welche Protesttaktiken die BelarussInnen von anderen Bewegungen aus der ganzen Welt übernommen haben.

Mit besten Grüßen zum Wochenstart
Philipp Sälhoff

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politnews


[ Bundestag startet Twitter-Kanale für hib-Meldungen ]
Die im politischen Berlin bekannten und geschätzten „heute im Bundestag“ (hib) Meldungen gibt es ab heute auch auf Twitter. Mit Meldungen zu parlamentarischen Vorgängen, Live-Streams oder Erklärvideos soll der Arbeitsalltag des Parlaments transparent gemacht werden. Der erste Tweet lässt zumindest auf zeitgemäße Formate hoffen. Das Nutzungskonzept steht zum Abruf auf der Bundestagswebsite bereit. Der bisher brachliegende @bundestag-Account könnte dem guten Beispiel der Hauspost dann nach der Bundestagswahl folgen. ➡️ hib_Nachrichten (Twitter-Account) | Bundestag (Nutzungskonzept Social Media)

[ Bundestagsfraktionen auf der Suche nach Followern ]
Die Bundestagsfraktionen tun sich schwer mit ihrer Social-Media-Arbeit. Mangelnde Beteiligung der Follower, fehlende Repräsentativität und komplizierte Formulierungen sind die größten Hindernisse in der digitalen Kommunikation, so eine Analyse des Tagesspiegels. Hochwertige Videos, klare Überschriften und mehr Community-Arbeit könnten wiederum Abhilfe schaffen. Die Polemik, mit der die AfD sich präsentiert, sei bisher am erfolgreichsten im Vergleich zu allen anderen Fraktionen auf Social Media, kommentiert der Hamburger Wahlbeobachter und Kommunikationsexperte, Martin Fuchs. ➡️ Tagesspiegel (Meldung)

[ Demokratie ohne Bewegung ]
Zur letzten Bundestagswahl wollte die neu gegründete Partei Demokratie in Bewegung (DiB) frischen Wind in die Politik bringen. Drei Jahre später und nach einem Ergebnis von 0,1 % bei der Bundestagswahl ist das Fazit ernüchternd: In einem selbstkritischen Discussion Paper des Progressiven Zentrums schauen die mittlerweile ausgetretenen MitgründerInnen Alexander Plitsch, Clemens Holtmann und Dorothee Vogt auf das Projekt zurück. Hauptursachen des Scheiterns: Mangel an Zeit, Führungsstrategien und inhaltlichem Profil. ➡️ Progressives Zentrum (Discussion Paper und Interview) | DiB (aktuelle Website)

[ Ex-Verdi-Chef und FFF-AktivistInnen kandidieren für den Bundestag ]
Statt neue Parteien zu gründen, gehen viele politisch Aktive auch den Weg des Wandels innerhalb der bestehenden Parteistrukturen. So werden Fridays For Future Aktivist Jakob Blasel und der ehemalige Verdi-Chef Frank Bsirske bei der nächsten Bundestagswahl für die Grünen antreten. Aus dem Umfeld von Fridays For Future sind weitere Kandidaturen für SPD und Linke geplant. ➡️ RND (Meldung)

[ Einigung bei der Wahlrechtsreform ]
Die Wahlrechtsreform kommt, wenn auch für viele in enttäuschendem Umfang und mindestens eine Legislatur zu spät. In der letzten Woche einigte sich der Koalitionsausschuss darauf, die Anzahl der Wahlkreise zur übernächsten Bundestagswahl 2025 von 299 auf 280 zu reduzieren. Für die Bundestagswahl 2021 gilt: bis zu drei Überhangmandate bleiben unausgeglichen. Außerdem sollen Überhangmandate der selben Partei in einem Bundesland verrechnet werden können. ➡️ Deutschlandfunk (Meldung) | FAZ (Kritik)


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Vegankoch Unter den Linden / Schadowstraße festgenommen

Die Berliner Polizei bewegt sich nicht immer so trittsicher auf den Social-Media-Kanälen wie die KollegInnen der landeseigenen Verkehrsbetriebe. An diesem Wochenende traf der trockene BeamtInnenhumor aber den Nerv des Netzes.

 

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31. August 2020