politnews – Deutschland, Deine Öffnungsdiskussionsorgien

[ Mit Meldungen zu einbrechenden Agenturumsätzen, rechtem Buzzfeed-Klon, chinesischer Staatspropaganda, Kosten des doppelten Regierungssitzes und politiktauglichen TikTok-Formaten ]

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Gesundheitsminister Jens Spahn konnte am Freitag frohe Kunde verbreiten, vielleicht zu frohe. Die Coronavirus-Krise sei “beherrschbar” geworden, wenngleich es für eine Entwarnung zu früh sei, so Spahn in der Bundespressekonferenz (Live-Mitschnitt). Er wagte damit den Drahtseilakt zwischen dem bei Laune halten einer ausgezehrten Bevölkerung bei gleichzeitiger Mahnung, viele der Verhaltensänderungen weiterhin durchzuhalten, um eine zweite Infektionswelle zu vermeiden. Die nächsten Tage werden zeigen, ob ihm das gelungen ist, denn mit den heute vielerorts in Kraft tretenden Lockerungen wird auch die allgemeine Quarantäne-Disziplin nachlassen.

Welche Rolle der Reproduktionsfaktor bei der politischen Abwägung spielt, erklärte Spahns Kabinettschefin Angela Merkel bereits am Mittwoch auf wissenschaftlich-nüchterne Art und bekam dafür grenzüberschreitende Anerkennung. Merkels sachliche Herangehensweise steht gerade dieser Tage in akutem Kontrast zu polternden, aber meist erfolgloseren Amtskollegen im Ausland – Warum Nationen mit weiblichen Staats- und Regierungsoberhäuptern derzeit besser durch die Krise kommen, hat das Forbes-Magazin analysiert. Wie internationale PolitikerInnen über das Virus reden und welche Eigenheiten hier z. B. bestimmte Sprachfamilien mit sich bringen, erläutert die Literaturkritikerin Maike Albath im Deutschlandfunk. Warum insbesondere die von Macron, Trump und Sánchez gewählte Kriegsrhetorik fehlleitet, analysiert Historiker und Dirigent Lars Straehler-Pohl im Tagesspiegel.

Der Kollaps des Gesundheitssystems ist also vorerst abgewendet, die intensivmedizinischen Kapazitäten noch lange nicht ausgereizt: 13.000 Spezialbetten sind derzeit noch frei. Zum Vergleich: Im ganzen Bundesgebiet sind momentan ca. 60.000 aktive Infektionen bei 150.000 Fällen insgesamt und 4.500 Todesopfern bekannt. Tendenz abnehmend. Damit der Überblick auch in Zukunft gegeben ist, listet seit vergangener Woche ein neues und öffentlich einsehbares Intensivregister täglich alle aktuellen COVID-19-Fälle und die Kapazitäten aus 95 % der deutschen Krankenhäuser.

Armin Laschet, den Spahn im derzeit pausierten Rennen um den CDU-Parteivorsitz unterstützt, erntete derweil viel Kritik für seine Entscheidung, die nordrhein-westfälischen Schulen früher wieder zu öffnen. Wie hoch es in der MinisterpräsidentInnenrunde herging, hat Robin Alexander in der Welt (Paywall) dokumentiert. Hier kam es beim Streit um die Gottesdienstverbote zu einer ungewöhnlichen Allianz zwischen Laschet und seinem Thüringer Amtskollegen Ramelow, die beide für Lockerungen plädieren. In einem lesens- oder hörenswertem DLF-Interview mit Stephan Detjen, das eher einem Streitgespräch gleicht, versucht der Ministerpräsident des am ersten und schlimmsten vom Coronavirus getroffenen Bundeslandes sowohl seinen Ansatz als auch die Rolle des Heinsberg-Protokolls zu erklären, widerspricht sich dabei aber selbst in Bezug auf dessen Finanzierung.

Mancherorts bleiben Kirchen geschlossen, Autohäuser dürfen hingegen öffnen; Bayern, Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern führen die Maskenpflicht ein, in Berlin und Brandenburg werden Abiturprüfungen geschrieben und Zoos und Tiergärten öffnen wieder ihre Tore: Was wie ein Flickenteppich anmutet, hat seine Ursachen in einem selbstbewussten und lebendigen Föderalismus. In einer beispiellosen Krise ist nicht zu erwarten, dass von Flensburg bis München alle Entscheidungen simultan und aus einem Guss umgesetzt werden, zumal Infektionsgeschehen und Betroffenheit sich zwischen den Bundesländern stark unterscheiden. Dennoch verstärken ausufernde “Öffnungsdiskussionsorgien”, wie es Angela Merkel heute Morgen in einer internen CDU-Schalte nannte, das Bild einer uneinheitlich agierenden Administration, was im schlimmsten Falle die Glaubwürdigkeit der Maßnahmen untergraben kann. Laschet geht einen riskanten Sonderweg, während der potenzielle Rivale um das Kanzleramt in München mit der Hardliner-Strategie Erfolge feiert. Selbst in NRW halten die BürgerInnen Söder nach einer neuen Umfrage für einen ebenso guten Kanzlerkandidaten wie den eigenen Landesvater.

Weitere Seitennotizen zum Politikbetrieb in der Coronapandemie:

  • Der Bundestag startet heute in die erste Online-Anhörung seiner Geschichte: Die Enquete-Kommission “Berufliche Bildung in der digitalen Arbeitswelt” wird ihre 20. Sitzung passend zum Thema per Web-Konferenz abhalten. (Link zur Drucksache)
  • Auch darüber hinaus reagiert das Parlament auf die Lage: Die aktuelle Sitzungswoche wird verkürzt. Die Plenarsitzung am Freitag entfällt, die üblichen Gremien- und Fraktionssitzungen am Montag und Dienstag sollen digital stattfinden. Namentliche Abstimmungen wurden aus dem Plenum in die Lobby verlagert.
  • Der Verfassungsblog hat eine Übersicht der Corona-Notstandsgesetzgebungen aus aller Welt zusammengetragen. Von Nepal über Australien bis Kolumbien beleuchten AutorInnen den Umgang der Staaten aus verfassungsrechtlicher Perspektive.

Und das politische Stimmungsbild? Die Union nähert sich der 40 %-Marke, die mitregierende SPD (ca. 17 %) liegt in den meisten Erhebungen wieder knapp vor den Grünen (ca. 16 %). Die AfD hingegen fällt auf 9 % und somit den tiefsten gemessenen Wert seit der Bundestagswahl. In jeder Krise liegt halt doch eine Chance.

Mit besten Grüßen zum Wochenstart
Philipp Sälhoff

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  • [ Agenturumsätze brechen in der Coronakrise ein ]
    Mehr als die Hälfte aller Agenturen erwarten durch die Coronakrise Umsatzeinbußen von 50 % und mehr. Ausnahmen bilden Digitalagenturen, die zum Teil sogar wachsen. Auch auf anderen Ebenen wurde reagiert: 93 % der teilnehmenden Agenturen haben die MitarbeiterInnen ins Homeoffice geschickt, 21 % Urlaub vorgezogen und 40 % Kurzarbeit angemeldet, weitere 30 % planen dies noch. Die Erhebung unter 118 Agenturen wurde von Das AgenturCamp von Hans-Gerhard Kühn durchgeführt. ➡️ W & V (Zusammenfassung) | Das AgenturCamp (Umfrageergebnisse)
  • [ Rechtes Jugendportal Fritzfeed geht online ]
    Mit Artikeln in Listenform, Quizzen und viele Emojis ist es erkennbar dem Vorbild Buzzfeed nachempfunden: Das neue Fritzfeed-Portal, das “patriotische Inhalte” und “Unterhaltung ohne Gendersternchen” verspricht. Was auf den ersten Blick harmlos aussieht, soll dem Ködern junger AnhängerInnen dienen: laut Recherchen von Bento und netzpolitik.org pflegen die GründerInnen nicht nur Beziehungen zu AfD-FunktionärInnen, sondern auch ins rechtsextreme Milieu rund um die Identitäre Bewegung. Bisher wurde außerdem kein Artikel unter einem Klarnamen veröffentlicht. ➡️ netzpolitik.org (Meldung)
  • [ China intensiviert Corona-Propagandaarbeit ]
    Nach Informationen der Welt am Sonntag bemüht sich die chinesische Vertretung in Deutschland derzeit massiv, die Wahrnehmung der Volksrepublik in der Corona-Krise positiv zu beeinflussen. So sollen deutsche RegierungsmitarbeiterInnen kontaktiert worden sein, um sich wohlwollend über das chinesische Krisenmanagement und die gemeinsame Zusammenarbeit zu äußern. Zusätzlich wirken im Netz grassierende Falschmeldungen im Sinne der chinesischen Propagandastrategie. ➡️ WELT (China) | Süddeutsche (Fake News)
  • [ Kosten für geteilten Regierungssitz steigen ]
    Mehr als neun Millionen Euro an zusätzlichen Kosten verursachte der geteilte Regierungssitz zwischen Bonn und Berlin im letzten Jahr, so ein Bericht des Bundesfinanzministeriums. Vor allem durch die fast 20.000 Dienstreisen – die Ausgaben hierfür stiegen in den letzten zwei Jahren sogar um mehr als 25 %. Seit dem Jahr 1999 haben Bundestag und Bundesregierung ihren offiziellen Sitz in Berlin, sechs der 14 Ministerien sind mit ihren Hauptstandort jedoch nach wie vor in Bonn verblieben. ➡️ RND (Meldung)
  • [ Politische Kommunikation auf TikTok ]
    Die Kurzvideoplattform TikTok genießt immer breitere Aufmerksamkeit: ForscherInnen der TU München haben sich nun damit auseinandergesetzt, wie politische Kommunikation in der App stattfindet. Im Gegensatz zu Twitter oder Facebook verbreiten die NutzerInnen hier nicht nur Nachrichten, sondern präsentieren sie auch – sie werden also selbst zum Inhalt. Zusätzlich bietet die Duett-Funktion die Möglichkeit, die Tonspur anderer Posts in das eigene Video einzubauen und so direkt auf das Gesagte reagieren zu können. Dies führe zu einem weitaus interaktiveren Austausch als in anderen sozialen Netzwerken. ➡️ Arxiv (Studie) | HubSpot (Tiktok Schritt-für-Schritt)


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Spahns Fahrstuhlgate

Auch Spitzenpolitikerinnen tun sich bei der Einhaltung der derzeitigen Corona-Maßnahmen schwer. Das richtige Tragen von Masken hat schon Armin Laschet und Peter Altmaier Probleme bereitet (der RBB erklärt in einem Video, wie es geht). Auch die Abstandsregelungen sind nicht jedermanns Sache. In der letzten Woche hat sich hier vor allen Dingen ausgerechnet Gesundheitsminister Spahn einen Fauxpas erlaubt und entschuldigte sich kurz darauf bei Twitter.

 

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Du liest lieber Bundestagsdrucksachen als Bunte? Du kennst mehr Parteivorsitzende als Pop-SängerInnen? Bei Weihnachtsfeiern mit der Familie sind alle schon nach der Vorspeise genervt von Deinen ungefragten Analysen der Wahlrechtsreform? Und Onkel Harald redet eh nicht mehr mit Dir, seit Du ihm erklären musstest, dass Angela Merkel doch nicht jeden Morgen die Schlagzeilen selbst schreibt? Kurzum: Politik ist Deine Leidenschaft und Du studierst? Dann brauchen wir Dich.

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Die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin e.V. (DIVI) ist eine wissenschaftliche Fachgesellschaft auf dem Gebiet der Intensiv- und Notfallmedizin in Deutschland. Sie ist ein Zusammenschluss von Berufsfachverbänden, wissenschaftlichen Gesellschaften und Einzelmitgliedern.

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20. April 2020