politnews – Deutschland arrangiert sich mit dem Ausnahmezustand

[ Mit Meldungen zu Newslettern, Corona-Innovationswettbewerben, Regierungsprojekte in der Warteschleife ]

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Mittlerweile gelten für fast 4 Milliarden Menschen und damit fast die Hälfte der Weltbevölkerung Ausgangsbeschränkungen, um die Coronavirus-Pandemie einzudämmen. Während diese Zahl recht sicher zu bestimmen ist, wird bei der Anzahl der Infektions- und Todesfällen weiterhin von einer hohen Dunkelziffer ausgegangen. Ein Vergleich mit den saisonal üblichen Sterbefällen zeigt teilweise dramatische Differenzen, wie der Economist darlegt.

Während sich das Virus in den USA mit New York als Epizentrum weiterhin rasant ausbreitet, verzeichnen Italien und Spanien in den letzten Tagen leichte Rückgänge bei Neuinfektionen und Sterbeziffern. In Deutschland scheinen die Kontaktsperren trotz mittlerweile über 100.000 Infizierten und 1.500 Todesopfern ebenfalls erste positive Effekte zu haben. Die Frage, wie lange das alles noch dauert ist sowohl legitim, weil eine Gesellschaft nicht auf unbestimmte Zeit unter physischer Isolation überdauern kann und ein “Exit-Szenario” braucht – als auch gefährlich, weil verfrühte Hoffnung und Ungeduld Nachlässigkeiten schüren kann. Der Deutschlandfunk versucht Antworten auf die Fragen nach der Dauer des “Lockdown light” zu geben.

Die Bundesrepublik fährt Test- und intensivmedizinische Kapazitäten sowie die Produktion von Atemschutzmasken und Beatmungsmaschinen hoch. Die ersten Finanzhilfen für Unternehmen und Selbstständige sind ausgezahlt. Der aktuelle Deutschlandtrend stellt den Regierungsparteien und ihrem Personal daher auch beeindruckende Noten im Krisenmanagement aus: Bundeskanzlerin Angela Merkel (+11 Prozentpunkte), die Ingenieure der fiskalischen “Bazooka” Finanzminister Olaf Scholz (+17) und Wirtschaftsminister Peter Altmaier (+13), aber auch der bayerische Ministerpräsident Markus Söder (+16) gewinnen zweistellig im Popularitäsranking. Jens Spahns Sprung von 9 Punkten, der in Nicht-Krisenzeiten eine Meldung an sich wäre, geht da fast schon unter. Die Coronavirus-Krise beendet hingegen das Umfragehoch der Grünen, während die Union derzeit wieder stabil jenseits der 30-Prozent-Marke rangiert. Die SPD kann leicht profitieren und kommt wieder auf Augenhöhe mit den Grünen, die AfD verliert und die FDP nähert sich der 5%-Hürde, die für den Wiedereinzug in den Bundestag genommen werden muss, gefährlich von oben.

Wie aber die Handlungsfähigkeit eben dieses Parlaments sicherstellen? Diese Frage treibt derzeit den an Krisenerfahrungen nicht armen Bundestagspräsidenten Wolfgang Schäuble um. Das Quorum für die Beschlussfähigkeit wurde bereits von 50 auf 25 % gesenkt. Bisher funktioniert der parlamentarische Betrieb unter erschwerten Bedingungen aber recht gut, wie die Abstimmung in der letzten Woche zeigte, bei der sich selbst die AfD nicht gänzlich quer stellte. Schäuble schweben darüber hinaus dazu derzeit zwei Szenarien vor: Ein sogenanntes Notparlament und virtuelle Bundestagssitzungen. Problematisch dabei: beides bedarf einer Verfassungsänderung. Aus allen Fraktionsspitzen gab es daher auch ein einhellig verhaltenes bis ablehnendes Echo. Der Notfallausschuss aus zwei Dritteln Bundestagsabgeordneten und einem Drittel Mitgliedern des Bundesrats ist bisher nur für den Verteidigungsfall vorgesehen, für Seuchen sind keine derartigen Überlegungen angestellt worden. Für virtuelle Sitzungen hat der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages aber bereits einen Formulierungsvorschlag entwickelt. SZ-Korrespondent Robert Rossmann über ein Parlament im Krisenmodus.

Google hat in der letzten Woche Bewegungsdaten aus 131 Ländern ausgewertet und zum Download bereitgestellt. Die “Community Mobility Reports” (hier die Daten für die deutschen Bundesländer) zeigen Veränderungen im Mobilitätsverhalten pro Region auf. Die Diskussion um Trac(k)ing-Apps, die mit Hilfe von mobilen Apps Ansteckungsketten nachverfolgen und vermeiden können, wird nach dem Vorstoß in Österreich nun auch in Deutschland heftiger. Solch eine Anwendung könnte Kontakte zurückverfolgen und rechtzeitig warnen. DatenschützerInnen warnen hingegen. Auf netzpolitik.org legen u. a. “Lage der Nation”-Host Ulf Buermeyer Für und der baden-würtembergische Datenschutzbeauftragte Stefan Brink Wider solcher Apps dar.

Zum Abschluss der pandemische Blick über den deutschen Tellerrand:

  • Großbritannien: Das Vereinigte Königreich befindet sich je nach Wohlwollen des Betrachtenden schon seit fast vier Jahren im politischen Krisenmodus. Nun wollen die britischen SozialdemokratInnen zumindest ihren beenden und haben am Wochenende Keir Starmer zum Nachfolger von Jeremy Corbyn gewählt, der nach der historischen Wahlschlappe aus dem Dezember gehen musste. Starmer (Portrait im New Statesman |EN) ist Brexit-Experte und gilt als Gegner des Austritts, will die Auseinandersetzung aber nicht wiederbeleben.
  • Brasilien: Jair Bolsonaros Beschwichtigungspolitik in Sachen Corona wird zum Bumerang für den rechtsradikalen Präsidenten. Zwar gab es keinen Putsch des Militärs, wie am Wochenende kurzzeitig berichtet wurde, aber seinen Ton musste der 65-Jährige auf Druck der Generäle deutlich ändern, nachdem schon Twitter und Facebook (entgegen der eigenen “No-Factchecking”-Policy bei PolitikerInnen und Parteien) Postings des brasilianischen Präsidenten gelöscht haben.
  • Ungarn: Das ungarische Parlament hat sich am vergangenen Montag de facto selbst entmachtet. 138 der insgesamt 199 Abgeordneten stimmten dafür, der Regierung Orbán weitreichende Befugnisse auf unbegrenzte Zeit zu übertragen. Neue Gesetze bedürfen jetzt nicht mehr der Zustimmung des Parlaments, Wahlen und Referenden können auf unbestimmte Zeit verschoben und KritikerInnen der Regierung für das Verbreiten von “Falschinformationen” ins Gefängnis gesteckt werden. Die Reaktion der EU auf Orbáns Machtausweitung blieb bislang – wie schon in der Vergangenheit – zögerlich und zahnlos.
  • USA: US-Präsident Trump nutzte seine öffentlichen Auftritte in den letzten Tagen oft dazu, die Malaria-Arznei Hydroxychloroquin für die Medikation von CoVid-19-PatientInnen anzupreisen – ohne haltbare wissenschaftliche Belege dafür. Ein Umstand, der im Situation Room des Weißen Hauses nun für einen beispiellosen Disput zwischen dem obersten Virologen Anthony Fauci (ungefähr vergleichbar mit dem Chef des Robert-Koch-Instituts) und Trump-Wirtschaftsberater Navarro geführt hat. Jonathan Swan mit dem Inside-Report der hitzigen Diskussion.

Wir alle haben in den letzten Tagen die Tücken von Telefon- und Videokonferenzen kennengelernt. Diese machten auch vor ersten reinen Audio-Pressekonferenz (geschnittene Version) der Bundesregierung mit Angela Merkel, Peter Tschentscher und Markus Söder nicht Halt. Einen Live-Mitschnitt der von Regierungssprecher Steffen Seibert tapfer moderierten Tonpannen inklusive einer leicht entnervten Bundeskanzlerin (“Ist der Söder noch dabei?”) gibt es hier.

Mit besten Grüßen zum Wochenstart
Philipp Sälhoff

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    Führungskräfte der digitalen Wirtschaft informieren sich am liebsten über Newsletter: 53 % der Befragten gaben an, diese regelmäßig zu nutzen, was im Vergleich zum vergangenen Jahr einen Zuwachs um 18 Prozentpunkte darstellt. Weitere wichtige Quellen sind Fach- und Branchenmedien sowie Business-Netzwerke wie LinkedIn. Twitter hingegen hat mit einem Wert von 5 % unter den TeilnehmerInnen der Umfrage massiv an Bedeutung verloren, so eine Umfrage der Hamburger PR-Agentur Frau Wenk sind. ➡️ Horizont (Meldung) | Frau Wenk (Umfrage)
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6. April 2020