politnews – Das Heinsberg-Protokoll und die Bedeutung von wissenschaftlicher Politikberatung

[ Mit Meldungen zu Bundestag reagiert auf Corona-Krise, KI-Tool gegen Desinformation, Ministerien boosten Social-Media-Budget, Top Ten der twitternden JournalistInnen & Beliebtheitssprung bei RegierungschefInnen ]

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Deutschland hört der Wissenschaft momentan gebannt zu, vielleicht stärker denn je zuvor. Es bilden sich nicht nur Virologen-Fanclubs, auch die politischen EntscheiderInnen sind auf verlässliche Zahlen und Einschätzungen der Fachleute angewiesen. Das sind sie zwar eigentlich immer, aber die Neuartigkeit der derzeitigen Lage macht die Abhängigkeit von evidenzbasierter Politikberatung noch größer und vor allem für alle sichtbar. Auch die Politik agiert auf Neuland. Diesmal wirklich.

Da verwundert es nicht, dass eine neue Studie, die die Entwicklung im nordrhein-westfälischen Landkreis Heinsberg – dem deutschen Corona-Hotspot – unter die Lupe nimmt, auf besonders offene Ohren stößt. Der Virologe Hendrik Streeck (Universität Bonn) hat die Zwischenergebnisse des “Heinsberg-Protokolls” vorgestellt, das seitdem Politik, Wissenschaft und KommunikationsexpertInnen beschäftigt. Untersucht wurde übrigens nur die im Gebiet am schlimmsten betroffene Gemeinde Gangelt (ca. 12.500 EinwohnerInnen), nicht der ganze Landkreis Heinsberg, wie der Name suggerieren könnte.

Die zentrale Frage dabei: Können die Zwischenergebnisse der COVID-19 Case-Cluster-Study, so der wissenschaftliche Titel (zweiseitige Zusammenfassung inkl. Empfehlungen der Uni Bonn), auf das ganze Land übertragen werden, wie es erste Berichterstattungen vermuten ließen? Spoiler: Nein. Schnell stand zwar eine Immunisierungsrate von 15 % im Raum, der Weg zur vielbeschworenen “Herdenimmunität” schien also nicht mehr weit. Doch Rahmenbedingungen und Methodik der Studie riefen Kritik hervor. Dennoch wurden Rufe nach einer Lockerung der Maßnahmen laut. Ein Streit, der derzeit intensiv geführt wird. Bundeskanzlerin Merkel und u. a. der bayerische Ministerpräsident Markus Söder wollen nicht zu früh in eine Debatte um Lockerungen einsteigen. NRW-Ministerpräsident Armin Laschet, dessen Landesregierung die Studie finanzierte, steht dem offener gegenüber. Die in NRW mitregierende FDP drängt sogar sehr stark darauf. So wurde die Studie schnell zu politischer Munition.

Streeck nimmt im Tagesspiegel-Interview Stellung, räumte aber auch ein, dass die Studie “mit heißer Nadel” gestrickt sei – nicht ganz die Aussage, die man sich von einem verantwortlichen Studienleiter wünscht. Die ZEIT fasst die umfangreiche methodische Kritik an der Erhebung zusammen.

Epidemiologische Studien waren bisher nicht als klassischer Anwendungsfall für PR-Kampagnen bekannt. Mit einem eigenen Twitter-Kanal, professionell inszenierten Fotos aus den Laboren und Sharekacheln war das im Falle des Heinsberg-Protokolls anders. Verantwortlich dafür zeichnete StoryMachine, die auf Social Media spezialisierte Kommunikationsberatung von Ex-Bild-Chef Kai Diekmann, dem ehemaligen stern.de-Chef Philipp Jessen und Eventmanager Michael Mronz.

Diese brach mit der selbstauferlegten goldenen Regel, nicht über die eigenen Kunden zu sprechen. (Philipp Jessen im Interview mit Meedia). Nachdem die Kritik immer lauter wurde, gab StoryMachine die Finanziers der Social-Media-Kommunikation zur Studie bekannt: Die Deutsche Glasfaser und Gries Deco Company (besser bekannt für ihre DEPOT-Kette) haben die Social-Media-Begleitung mit 30.000 € finanziert, StoryMachine trug den Rest laut Selbstauskunft aus Eigenmitteln. Die Uni Bonn selbst zahlte nicht für die Begleitung, auch die Genese sei von der Agentur ausgegangen: Co-Chef Mronz kontaktierte Streeck eigeninitiativ. Was bleibt, ist ein Geschmäckle der Verquickung von professioneller PR und einer fachlich umstrittenen wissenschaftlichen Studie inmitten einer politischen Auseinandersetzung.

Auch die Leopoldina aus Halle legte am Osterwochenende eine Empfehlung für die schrittweise Lockerung vor. Bemerkenswert dabei: unter den 28 GutachterInnen (ja, es sind auch ganze zwei Frauen dabei) sind Virologen und Epidemiologen in der krassen Unterzahl. Die “Ad-hoc-Stellungnahme” (Originalversion als Download) bleibt dann auch wesentliche Kernaussagen schuldig, wie die FAZ kritisiert. Die Helmholtz-Gemeinschaft hingegen sieht keinen Anlass zur Entwarnung, sondern fordert eher noch flankierende Maßnahmen (Kurzzusammenfassung als PDF-Download).

Quer durch die Parteien und Sektoren wird jedoch vor einer zu frühen Lockerung der Maßnahmen gewarnt. Mit guten Gründen, denn der Erfolg der eingeleiteten Maßnahmen entscheidet sich genau jetzt, ein vorschnelles Zurückfahren bei den ersten Erfolgen wäre töricht und würde eine zweite Welle provozieren, wie auch unser Tweet der Woche zusammenfasst.

  • Nun äußerte sich auch Bundespräsident Steinmeier zur Krise und sprach von einer “Prüfung unserer Menschlichkeit” statt von “Krieg”, wie es z. B. Emmanuel Macron getan hat (Rede im Video und Manuskript).
  • Nach einem Aufenthalt in der Intensivstation ist der britische Premier Boris Johnson wieder auf dem Wege der Besserung. In einem Video bedankte er sich bei den PflegerInnen und ÄrztInnen der von der Regierung chronisch unterfinanzierten NHS, die ihn behandelten.
  • Die aktuellen und interaktiv aufbereiteten Fall- und Opferzahlen für die ganze Welt finden Sie hier, für Deutschland inkl. Landkreise hier.

Die Nicht-Corona-News der Woche: Bernie Sanders hat sich aus dem Vorwahlkampf der amerikanischen Demokraten verabschiedet und will Joe Biden unterstützen. Diesem ist die Kandidatur damit kaum noch zu nehmen. Biden wiederum versprach der linken Anhängerschaft seines bisherigen Konkurrenten ein inhaltliches Entgegenkommen.

Mit besten Grüßen zum Wochenstart
Philipp Sälhoff

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14. April 2020