politnews – Das Coronavirus als ultimativer Stresstest für die Politik

[ Mit Meldungen zum Rekord-Pessimismus der Deutschen, Corona-Arbeitsmarkteffekte für KommunikatorInnen, Zeitungen mit Reichweitesprung, Söder steigt in bundesweiter Beliebtheit, Facebook-Meltdown unter Teenagern ]

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Die weltweite Ausbreitung des Coronavirus schreitet immer schneller voran, mittlerweile mit mehr als 700.000 bestätigten Infektionen. Die Fallzahlen in Europa steigen weiter: In Großbritannien haben sich sogar Premierminister Boris Johnson und sein Gesundheitsminister Matt Hancock mit Covid-19 infiziert, nachdem letzte Woche schon Prince Charles positiv getestet worden ist. Der Guardian hat die Verbreitung des Virus’ in Regierungskreisen graphisch nachvollzogen. In Italien und Spanien sterben mittlerweile nahezu 1.000 Menschen täglich an den Folgen der Lungenkrankheit, in den übrigen Ländern nehmen die Fallzahlen einen ähnlichen Verlauf, wenngleich die Mortalitätsrate sich teilweise deutlich unterscheiden von bis zu 11 % (Italien) bis unter 1 % (Deutschland). Den aktuellen Stand der Pandemie laut Johns Hopkins Universität finden Sie hier, die interaktive Karte des Tagesspiegels für Deutschland mit Landkreisen hier.

Die USA, die aufgrund der fatalen Kombination aus dysfunktionalem Gesundheitssystem, prekärem Arbeitsmarkt und mangelnden sozialen Absicherungssystemen strukturell besonders gefährdet sind, gelten nun als das globale Pandemiezentrum mit mehr Infektionen als Italien oder China. Ein beängstigendes Frühwarnzeichen der wirtschaftlichen Folgeschäden: Die Erstanträge auf Arbeitslosigkeit stiegen in der letzten Woche auf einen historischen Extremrekord. Über 3 Millionen Menschen beantragten Arbeitslosenhilfe und übertrafen damit bei weitem den bisherigen Höchststand von 1982 mit 695.000 (Zeitleiste der Washington Post). Allein Schweden belässt es immer noch bei einem recht laxen Umgang. Eine Praxis, bei der vielen SkandinavierInnen mulmig ist, wie der Spiegel vor Ort recherchierte.

Deutschland nimmt die Lage ernst. Derzeit werden hierzulande ca. eine halbe Million Menschen wöchentlich auf das Virus getestet, ein internationaler Spitzenwert. Seit einer Woche sind darüber hinaus bundesweit “Kontaktverbote” in Kraft. Wie unterschiedlich diese von den Bundesländern umgesetzt werden, hat die taz in einer Übersicht (Stand vom 27.03.) dargestellt, die aufgrund der dynamischen Lage zwar unter Vorbehalt zu genießen ist, aber doch interessante Unterschiede aufzeigt. So darf man in Berlin noch in Buchhandlungen einkaufen, aber nicht alleine draußen lesen, was wiederum in den meisten anderen Bundesländern möglich ist. Weiterhin fällt auf: Das am dünnsten besiedelte Bundesland legt Wert auf den größten Mindestabstand.
Wer für die kleineren Fragen des Corona-Alltags eine Orientierungshilfe braucht: Der “CORON-A-MAT” vom iRights Lab bietet charmante Tipps für die aktuelle Lebenslage. Die Bluelist-Initiative stellt hingegen große und kleine Unternehmen vor, die in der Krise unbürokratisch helfen – von der Schnapsbrennerei, die Alkohol für Desinfektionsmittel spendet bis hin zum Sanitärhersteller, der Duschbusse für Obdachlose zur Verfügung stellt.

Mit “Coronavirus: Why You Must Act Now” verfasste der Verhaltenspsychologe Tomas Pueyo Anfang März einen Artikel, der mit seiner nüchternen Analyse möglicher Auswirkungen der Pandemie international Wellen schlug. Gefolgt wurde dieser Mitte März von “The Hammer and the Dance”, in dem er den weiteren Verlauf und Gegenmaßnahmen zur Pandemie schildert. Nun hat das Bundesinnenministerium unter dem gleichen Titel eine interne Analyse erstellen lassen. Die taz berichtet über das geleakte Papier, das drei verschiedene Szenarien der Ausbreitung in Deutschland beschreibt.

Inmitten der sich überschlagenden Nachrichten um das Coranavirus fiel am Samstagabend die Eilmeldung über den Selbstmord des hessischen CDU-Finanzministers Thomas Schäfer (Nachruf der Hessenschau). Wie Ministerpräsident Volker Bouffier bestätigte, war die Sorge um die Bewältigung der Coronakrise ausschlaggebend für den Suizid seines Parteifreundes und aussichtsreichen Nachfolgekandidaten. In seiner Rede im hessischen Landtag am vergangenen Dienstag erklärte Schäfer noch, dass die nun anstehenden Maßnahmen zwar eine  “Jahrhundertaufgabe von unbekannter Dimension” seien, er aber auch “zuversichtlich [sei], dass wir gute Chancen haben, das zu bewältigen”.

Angestellte im Gesundheitswesen, Einzelhandel und anderen systemrelevanten Sektoren leisten derzeit Übermenschliches. Die politische Bewältigung dieser beispiellosen Krise, die ohne Masterplan und wenig Erfahrungswerte ablaufen muss, ist dabei jedoch nicht zu unterschätzen. Öffentliche Kehrtwenden von europäischen Partnern wie den Niederlanden und Großbritannien zeigen, wie groß die Verunsicherung selbst bei gestandenen Politikprofis ist und vor allem, dass es kein Patentrezept für diesen weltweiten Stresstest gibt. Von den Mitgliedern des Bundeskabinetts bis zu den Antragsbearbeitungen in den Finanz- und anderen Verwaltungen arbeiten politische EntscheidungsträgerInnen und ihre Teams derzeit rund um die Uhr daran, Leben, wirtschaftliche Existenzen und den gesellschaftlichen Frieden zu retten.

Michael J. Ryan ist zwar kein Politiker, aber Generaldirektor der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und hat mehrere Ebola-Ausbrüche miterlebt und bewältigt. Sein Rat an Verantwortliche weltweit und ein Appell an eine mutige politische Fehlerkultur:

If you need to be right before you move, you will never win. Perfection is the enemy of the good when it comes to emergency management. The problem in society we have at the moment is that everyone is afraid of making a mistake. Everyone is afraid of the consequence of error but the greatest error is not to move. The greatest error is to be paralyzed by the fear of failure.(Komplettes Statement im 80-sekündigen Video)

Krisen produzieren Fehler, das liegt in ihrer Natur. Seien Sie kritisch, hinterfragen und diskutieren Sie Maßnahmen und Entscheidungen, aber haben Sie auch Verständnis für menschliche Grenzen und Unsicherheiten.

Verantwortung für sich und andere, Verhältnismäßigkeit und Rücksichtnahme gehören zum zentralen Betriebssystem der liberalen Demokratie. Wenn wir die Corona-Krise innerhalb dieser Ordnung lösen wollen, kann politisches Handeln nur Erfolg haben, wenn jeder Einzelne diese Werte lebt und nicht auf staatliche Vorgaben wartet, die ihm oder ihr das Offensichtliche noch mal per amtlicher Mitteilung bestätigen.

Mit besten Grüßen zum Wochenstart
Philipp Sälhoff

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  • [ Optimismus der Deutschen auf Rekord-Tief ]
    Noch nie seit der Gründung der Bundesrepublik schauten die Deutschen so pessimistisch in die Zukunft wie derzeit. Sahen zum Jahreswechsel noch 49 % dem kommenden Jahr mit Zuversicht entgegen, waren es Mitte März nur noch 24 %, so eine Allensbach-Umfrage. Bisherige Tiefpunkte waren der Koreakrieg (27 %), die Ölkrise von 1973 (30 %) und die Anschläge vom 11. September 2001 (31 %). Auch die rekordverdächtigen Einstürze der IfO-Geschäftsklima- und GfK-Kosumverhalten-Indizes spiegeln diese Lage wieder. ➡️ Business Insider (Meldung) | IFO (Meldung) | GfK (Pressemitteilung)
  • [ Wie Corona den Kommunikationsarbeitsmarkt verändert ]
    In einer Befragung von Top-Führungskräften der Kommunikationsbranche gaben ca. 15 % der Befragten an, dass sich der Personalbedarf kaum verringert. Genau der gleiche Anteil sieht hingegen deutlich weniger Personalbedarf. Besorgt zeigen sich die Führungskräfte stärker um die Karrieren ihrer MitarbeiterInnen als um die eigenen. Auch eine Abnahme der Recruitingaktivitäten bis hin zu Einstellungsstopps werden übergreifend erwartet. ➡️ PR Report (Bericht) | meta HR (Blogeintrag)
  • [ Coronakrise verhilft Zeitungen zu enormem Reichweite-Plus ]
    Seit Nachrichten zum Coronavirus die mediale Berichterstattung dominieren, konnten Zeitungen in Deutschland sprunghaft angestiegene NutzerInnen-Zahlen ihrer Online-Angebote verzeichnen. Den Aufzeichnungen der ZMG zufolge steigerte sich die digitale Reichweite der Branche im Vergleich zu Ende Januar um ganze 34 %. Besonders regionale Zeitungen profitieren von der starken Nachfrage nach Informationen zur Situation in der unmittelbaren Umgebung. ➡️ BDZV (Pressemitteilung) | FAZ (Bericht)
  • [ Söder laut INSA beliebtester Politiker Deutschlands ]
    Einer Umfrage des Meinungsforschungsinstitutes INSA zufolge ist Markus Söder in der zweiten Woche in Folge der Politiker mit den höchsten Zustimmungswerten. Mit 156 von 300 möglichen Punkten erreichte er zudem den besten Wert seit Beginn der Erhebungen im Januar 2019. Der bayerische Ministerpräsident konnte durch seine harte Linie in der Eindämmung der Coronakrise punkten und seine Chancen auf eine Kanzlerkandidatur erhöhen. Das ZDF-Politbarometer sieht Söder auf Platz 2 hinter Bundeskanzlerin Merkel, die ihre Sympathie- und Leistungswerte stark verbessern konnte. ➡️ Focus (Meldung) | Forschungsgruppe Wahlen (Bericht)
  • [ Facebook-Nutzung unter Teenagern stürzt weiter ab ]
    Die Nutzung von Facebook ist unter Jugendlichen stark zurückgegangen, wie die aktuelle JIM-Studie zur Mediennutzung zwölf- bis 19-jähriger zeigt. Innerhalb der letzten vier Jahre ist der Anteil derer, die das soziale Netzwerk zur täglichen Kommunikation nutzen, von 38 auf 9 % abgerutscht. Mit einem Wert von 86 % bleibt WhatsApp nach wie vor die beliebteste Plattform. TikTok, das weltweit zu den am schnellsten wachsenden sozialen Netzwerken zählt, erreicht unter deutschen Jugendlichen bisher nur 6 %. ➡️ Stiftung Warentest (Artikel)


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Die kürzeste Bundesratssitzung der Geschichte

Besondere Zeiten erfordern besondere und parteiübergreifende Maßnahmen. Derzeitiger Bundesratspräsident und brandenburgischer Ministerpräsident Dietmar Woidke ging in die Geschichte ein, als er in gerade mal 2:01 Minuten die Bundesratssitzung zur Coronakrise abhielt.

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Weltgesundheitsorganisation – Europäisches Zentrum für Umwelt und Gesundheit (WHO-ECEH)
Das Zentrum ist ein Büro der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und gehört zum WHO Regionalbüro Europa. Es beschäftigt sich mit den Auswirkungen von Umweltgefahren auf die Gesundheit des Menschen und insbesondere der Kinder in 53 Staaten Europas und Zentralasiens.

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30. März 2020