Grüne zwischen Regierungsverantwortung und Selbstaufgabe

Die politnews vom 17. Oktober 2022

Christian Lindner startet Podcast | Medienpreis des Bundestags 2022 verliehen | Annalena Baerbock als „Politikerin des Jahres” ausgezeichnet | Digitale Verwaltung in Deutschland hinkt weiter hinterher | Wer profitiert von der Niedersachsenwahl? u.v.m.

WAHLTREND: Verluste für die FDP | BUCH: Wir werden einander viel verzeihen müssen | TWEET: Demokratischer Leserbrief | STAKEHOLDER: Women Political Leaders

Liebe Leserin, lieber Leser,

der Parteitag der Grünen in Bonn hat sich am Wochenende für die Laufzeitverlängerungen von Kernkraftwerken, Waffenlieferungen in ein Kriegsgebiet und die Räumung eines Dorfes zugunsten eines Kohlekraftwerks ausgesprochen. Nehmen Sie diesen Satz, reisen mit einer Zeitmaschine in die Jahre der letzten grünen Regierungsbeteiligung – und steigen dort dann möglichst schnell wieder ein. Absolut undenkbar wäre so eine Beschlusslage für viele damals gewesen. Doch heute fordert die Krise auch bei der Anti-AKW- und Klimaschutzpartei Realpolitik ein und das Staatstragende ist bei den Grünen Parteiräson geworden. Oder um es mit Partei-Chef Nouripour zu sagen: „Ja, wir tragen diesen Staat”. Thorsten Denkler attestiert den Grünen in zehn Takeaways eine neue „Vernunft“.

Hintergründe zu den neuralgischen Beschlüssen im Einzelnen:

  • Die Entscheidungen für den Streckbetrieb der süddeutschen Atomkraftwerke Isar 2 und Neckarwestheim 2 bis zum 15. April 2023,
  • knapp (315 zu 294) gegen das sogenannte Räumungsmoratorium für Lützerath und damit für den Weiterbetrieb zweier Kohlekraftwerke in Nordrhein-Westfalen,
  • mit überwältigender Mehrheit für die Unterstützung der Ukraine, vor allem auch mithilfe verstärkter Waffenlieferungen,
  • für den Kompromiss, die im Rahmen eines europäischen Gemeinschaftsprojekts und durch die Große Koalition vereinbarten Waffenlieferungen an Saudi-Arabien zwar prinzipiell abzulehnen, aber das Projekt selbst nicht anzurühren.

Dass die Grünen sich in diesen identitätsstiftenden Fragen nach harter Debatte doch realpolitisch geben, überrascht am Ende gar nicht mal so sehr – da waren die gesprochenen Gendersternchen des gastredenden BDI-Chefs Siegfried Russwurm schon unerwarteter. Vorwürfe muss sich die Partei von Bundeswirtschaftsminister Habeck und Außenministerin Baerbock für ihre Beschlüsse kaum anhören. Dafür war die Party am Abend umso lauter: Wie sich Nouripour als DJ machte, zeigt ein kursierender Videoausschnitt.

  • Felix Hackenbruch schreibt für den Tagesspiegel, dass sich die Grünen bis zur Selbstaufgabe dehnten.
  • Claus Christian Malahn hat die Bundesdelegeiertenkonferenz in Bonn beobachtet und schreibt in der WELT über die Freude der Grünen am Regieren.
  • Helene Bubrowski kommentiert in der FAZ, wie die Parteitagsbeschlüsse zur AKW-Frage die ganze Ampel lähmt.
  • Wie sich am Rande des Parteitags Streit um feministische und „queer-Positionen“ entwickelte, weiß Marlen Schubert in DER WESTEN zu berichten.
  • Wer den Parteitag finanziert hat, weiß abgeordnetenwatch. Wie die Stände aussahen, hat DLF-Greenwatcherin Ann-Kathrin Büüsker dokumentiert. Hintergrund: Die Grünen machen ihre Sponsoren-Einnahmen öffentlich.

 

Das macht die FDP zwar nicht. Dafür aber ihren Unmut über die aktuelle Rollenverteilung in der Ampel. Nach der Niedersachsen-Wahl am vorletzten Sonntag erklärte Parteichef Christian Lindner, seine Partei sei vor allem aus staatspolitischer Verantwortung Teil der Ampel geworden und nicht, weil man sich den Kolleg:innen von Rot und Grün besonders nah fühlte. Die Distanz, vor allem zwischen den Zitrusselfie-Parteien, wird nahezu täglich zelebriert und zeigt sich besonders im Streit um die AKW-Laufzeitverlängerung. Durch die Wahl in Niedersachsen ist die Stimmung zwischen den grünen und gelben Ampelmännern nicht besser geworden. Bundeskanzler Olaf Scholz hat Wirtschaftsminister Robert Habeck und Finanzminister Lindner seit vergangenem Dienstag dreimal ins Kanzleramt gebeten, um eine Lösung zu finden. Doch auch das Treffen am Sonntagabend förderte erneut keine Einigung zutage. Habeck zeigte in einem Interview mit Ingo Zamperoni, wie wenig Lust er auf das Thema noch hat.

  • Thomas Sigmund appelliert im Handelsblatt an Habeck und Lindner, sich zusammen zu raufen und erinnert an den Spirit der Anfangszeit.
  • Warum es vielleicht besser wäre, die Koalition aufzulösen, wenn sich Habeck und Lindner nicht einigen können, argumentiert Tim Herden für den MDR.
  • Robert Pausch hat eine These (Twitter-Thread), nach der die FDP den Atomstreit gar nicht gewinnen will.
  • Was Habeck und den geschassten Spitzenkandidaten der niedersächsischen FDP Stephan Birkner privat verbindet, weiß Markus Decker.
  • In unserer Regierungsbilanz nach fast einem Jahr Ampel diskutierte Mareile Ihde mit Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP), Dorothee Martin (SPD), Tobias Lindner (Grüne) und Gordon Repinski (ThePioneer) über den Zustand der Koalition (Video).
FDPGrafik-Vorlage Editorial

Ein anderes Problem der FDP kam auch wieder hoch: Frauen haben es in der Partei schwer. Wolfgang Kubicki, stellvertretender Parteivorsitzender und Bundestagsvizepräsident, hat dieses Thema mit einer problematischen Anekdote wieder in die Schlagzeilen gebracht. Dass er die frühere FDP-Generalsekretärin Silvana Koch-Mehrin in einem Jobsondierungsgespräch „angebaggert” hat, findet er bis heute nicht schwierig, wie er in der Sendung von Sandra Maischberger und in einem anschließenden Interview mit dem SPIEGEL wissen ließ.

  • Wieso Kubickis „Weg der geringsten Einsicht“ hochproblematisch ist, kommentiert Sophie Garbe für den SPIEGEL.
  • Oliver Klasen erklärt in der Süddeutschenwie gefährlich die Episode für Kubicki werden kann.
  • Im Gespräch mit dem WDR erklärte Silvana Koch-Mehrin ihre Sicht auf die Geschichte mit Wolfgang Kubicki.

Für die FDP gibt es derzeit viele Gründe, die Alarmglocken schrillen zu hören. Nun kamen auch noch vermeintlich elementare dazu: Im Bundestag gab es Feueralarm. Das hatte vielmehr mit Klimaaktivist:innen zu tun, die ihrem Protest gegen die Politik der Ampel Ausdruck verleihen wollten – damit aber auf viel Unverständnis nicht nur in den Sozialen Medien stießen. Der Bundeskanzler höchstselbst meldete sich zu Wort und ließ wissen, dass man mit solchen Aktionen die Diskussionen nicht verbessere. Die Aktivist:innen bekommen jetzt wohl eine saftige Rechnung aufgetischt; t-online weiß, wie sich diese zusammensetzt.

 

Mit den besten Grüßen zum Wochenstart

Philipp Sälhoff

Aktuelle politjobs
Loading RSS Feed
Politticker
Christian Lindner startet Podcast

Finanzminister Christian Lindner wird Podcaster. In seinem Podcast „CL+“ spricht der Chef der Liberalen fortan mit Persönlichkeiten aus Kultur, Sport, Wirtschaft und Politik über die „drängenden Fragen unserer Zeit“. Am Donnerstag erschien die erste Folge. Gast war der Publizist Michel Friedman, mit dem Lindner unter anderem über die liberale Demokratie im globalen Wettbewerb der Systeme diskutierte. Videoversionen des neuen Formats können Interessierte auf der FDP-Website ebenso wie auf YouTube abrufen.

Medienpreis des Bundestags 2022 verliehen

Bundestagspräsidentin Bärbel Bas würdigte Karoline Meta Beisel, Constanze von Bullion, Lara Fritzsche und Nicola Meier mit dem Medienpreis Parlament 2022 des Deutschen Bundestages. Die Journalistinnen wurden für ihren neunseitigen Artikel „Handy-Jahre einer Kanzlerin“ ausgezeichnet. Darin analysieren sie, wie die Kanzlerin ihr Mobiltelefon während der 16 Jahre im Kanzleramt als Machtmittel einsetzte. Der Preis wird seit 1993 für herausragende publizistische Arbeiten über den Parlamentarismus und parlamentarische Abläufe verliehen. Er ist mit…

Digitale Verwaltung in Deutschland hinkt weiter hinterher

Digitale Verwaltungsangebote stoßen in Deutschland auf wenig Akzeptanz. Das geht aus dem eGovernment Monitor 2022 von D21 hervor. In der Bundesrepublik stagniert die Nutzung: 54 % haben ein solches Angebot in den letzten zwölf Monaten wahrgenommen (2021: 52 %). Österreich (72 %) und die Schweiz (61 %) zeigen sich hier digitalisierter. Mit 64 % (2021: 62 %) der Bürger:innen, die bereits online-Angebote der Behörden genutzt haben, ist Hamburg die digitalste Verwaltung Deutschlands. Mecklenburg-Vorpommern ist…

Politikawards vergeben

Außenministerin Annalena Baerbock wurde als „Politikerin des Jahres“ mit dem Politikaward ausgezeichnet. Das achtzehnte Jahr in Folge verlieh das Fachmagazin politik&kommunikation den Preis in Berlin. Als „Aufsteiger des Jahres“ wurde Justizminister Marco Buschmann gewürdigt, SPD-Chef Lars Klingbeil als „Stratege des Jahres“. Der Vorsitzende der Konrad-Adenauer-Stiftung und ehemalige Präsident des Bundestags Norbert Lammert erhielt den Politikaward für sein Lebenswerk.

Wer profitiert von der Niedersachsenwahl?

Die Niedersachsenwahl war eine Schwächung für die Ampel im Bund – das meinten 51 % der Befragten bei einer Umfrage des SPIEGEL. Lediglich 24 % interpretierten die Ergebnise als Stärkung der Regierungskoaltion. Insbesondere waren 66 % der Meinung, dass die Ergebnisse der Landtagswahl eine Schlappe für Friedrich Merz bedeutet, nur 10 % glaubten, dass sie den CDU-Chef stärken würden.

Wahltrend
Wahltrend

Der pollytix-Wahltrend zur Sonntagsfrage, Vorwochenvergleich in gefärbten Zahlen. Die Angaben berechnen sich aus dem gewichteten Mittel aller Sonntagsfragen der letzten 20 Tage. Den kompletten Wahltrend und alle Einzelumfragen finden Sie hier, mehr zur Methodologie hier.

Buch der Woche

Jens Spahn

Wir werden einander viel verzeihen müssen

Als Jens Spahn zu Beginn der Corona-Pandemie davon sprach, dass man sich in ein paar Monaten wahrscheinlich viel werde verzeihen müssen, sorgte das für großes Aufsehen. Nun hat der ehemalige Gesundheitsminister gemeinsam mit zwei Journalisten ein Buch über seine Sicht auf die Pandemie veröffentlicht. Er beschreibt darin, wie die Pandemie das Land verändert und die Politik mitunter überfordert hat. Es kommen aber auch eigene Zweifel und Fehleinschätzungen in seiner Rolle als damaliger Krisenmanager zur Sprache. Zu Spahns Lehren aus der bisherigen Pandemie gehört, dass die Vorsorge und Vorausplanung in zu vielen Bereichen viel zu lange vernachlässigt wurde. Er fordert deshalb ein „Krisendrehbuch“ und die Analyse notwendiger Strukturen und Entscheidungswege – mit Blick auf die erneut steigenden Corona-Zahlen leider auch in diesem Herbst und Winter von Relevanz.

Benjamin Triebe

Tweet der Woche

@_LarsAlt

Demokratischer Leserbrief

@_LarsAlt hatte in der vergangenen Woche eine schwierige Aufgabe. Nachdem die FDP, seine Partei, mit 4,7 % aus dem Landtag in Hannover flog, musste er sein Büro räumen – für die AfD-Fraktion. Der frühere Vorsitzende der niedersächsischen JuLis hinterließ eine deutliche Botschaft, hinter der sich auf Twitter Anhänger:innen aller demokratischen Lager versammeln konnten.

Mareile Ihde

Stakeholder der Woche
WPLLogo-Website

Women Political Leaders (WPL)

Women Political Leaders (WPL) ist ein internationales Netzwerk von Frauen, die politische Ämter innehaben. Die Stiftung hat als Ziel, die Zahl von Politikerinnen sowie den Einfluss von Frauen in der Politik zu vergrößern. Die WPL hat ihren Sitz in Reykjavík. Die ehemalige Europa-Abgeordnete Silvana Koch-Mehrin ist Gründerin und Vorsitzende von Women Political Leaders.

Gregor Bauer

Jobs

Auf der Suche nach dem richtigen politjob?
Jobs aus dem Politikbetrieb auf politjobs.com oder in unserem wöchentlichen Newsletter.

Sie suchen selbst Verstärkung?
Schreiben Sie uns unter info@polisphere.eu für unverbindliche Preisinformationen. Hier finden Sie unsere Anzeigen-Pakete im Überblick.

Oder in den Talent Pool!
Tragen Sie sich direkt kostenlos in unseren Talent Pool ein! Dann melden wir uns, wenn wir einen passenden Job für Sie haben.

Events

Stets aktuelle Veranstaltungen aus dem Politikbereich finden Sie auf politcal.de.

Auf politcal.de können Sie Ihre eigenen Veranstaltungen jederzeit hochladen.
Probieren Sie es aus!

Das Redaktionsteam
17. Oktober 2022